Die Krisen der Gegenwart sind omnipräsent. Der Zustand der Demokratie in den USA ist durch die zweite Präsidentschaft Trumps prekär geworden. Hinzu kommt Putins Krieg in der Ukraine, der andauernde Konflikt in Israel und Gaza sowie das Erstarken rechter und faschistischer Tendenzen in Deutschland und ganz Europa. All dies schreit nach Erklärungen. Die zugrunde liegenden Themen – Demokratieabbau, Krieg und Autoritarismus – finden sich allesamt in den Schriften der politischen Theoretikerin Hannah Arendt wieder. Ihre Gedanken wirken vielfach wie eine prophetische Analyse der Gegenwart und bieten darüber hinaus eine erstaunliche politische Perspektive. Der Blick zurück in Arendts Arbeiten ermöglicht einen Blick nach vorne für eine Erneuerung der Demokratie und des politischen Handelns.
Hannah Arendt starb vor genau 50 Jahren. Am 4. Dezember 1975 erlag sie in ihrer New Yorker Wohnung einem Herzinfarkt. Die 1906 in Hannover geborene und im damaligen Königsberg aufgewachsene Arendt musste als Jüdin 1933 aus Nazi-Deutschland fliehen. Nach einem Aufenthalt in Paris, wo sich eine enge Freundschaft mit dem Philosophen Walter Benjamin entwickelte, kam sie während des Zweiten Weltkriegs in das Internierungslager Gurs nach Südfrankreich. Von dort konnte sie schließlich nach New York emigrieren, wo sie ab 1953 eine Professur für politische Theorie bekleidete.
Arendts Fluchtgeschichte sowie ihre Erfahrungen als Staatenlose – die Nazis hatten sie 1937 ausgebürgert und sie wurde erst 1951 US-Bürgerin – prägten ihr Schaffen. Bekannt ist ihre Aussage, dass eine Staatsbürgerschaft »das Recht, Rechte zu haben« bedeutet. Gerade in Momenten, in denen Menschen dringend Hilfe brauchen, wie auf der Flucht, wird ihnen dieses Recht jedoch meist verwehrt. Somit werden die Menschenrechte genau in jenen Momenten prekär, in denen sie am notwendigsten gebraucht werden. Genau beobachtete die politische Theoretikerin, was diese Aberkennung von Rechten für Menschen bedeutet: sowohl den Ausschluss aus Rechtsordnungen und staatlichem Schutz, aber auch die Exklusion aus einem Gemeinwesen und der Gesellschaft. Als Staatenlose oder Geflüchtete verlieren Menschen schlicht ihren »Platz in der Welt«, so Arendt.
Die Zerstörung von politischen Gemeinschaften war ebenso Thema in ihrem frühen Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« von 1951. Dort analysiert sie die Entstehung und Merkmale von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Das Buch erklärt, dass sich diese Herrschaftsformen durch Ideologie, Propaganda, Terror und Massengesellschaften auf alle Lebensbereiche ausdehnen. Das politische Handeln wird durch die totalitäre Ideologie ersetzt, die jeden Aspekt des menschlichen Lebens zu reglementieren versucht und somit das Wesen des Menschen selbst verändert.
Arendt begann 1924 ihr Studium an der Universität Marburg und studierte bei Martin Heidegger Philosophie. Später wechselte sie nach Heidelberg und promovierte bei Karl Jaspers. In ihrer Theorie legte sie stets großen Wert auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen, der von vornherein ein Gemeinschaftswesen sei. Menschen sind Teil einer Gemeinschaft und besitzen jederzeit die Fähigkeit zu handeln, also Initiativen zu ergreifen und einen Neuanfang zu wagen. Spontanität ist wesentlicher Teil dessen, was sie als »Natalität« bezeichnet: die grundlegende Fähigkeit des Menschen, »selbst einen neuen Anfang zu machen«, wie sie in ihrem Werk »Vita activa oder Vom tätigen Leben« 1958 schreibt. Die Idee dieses Neuanfangs in einer bestehenden Gemeinschaft mit anderen kann als Gegenentwurf zur »Geworfenheit« des Menschen bei ihrem früheren Lehrer (und zeitweiligen Liebhaber) Heidegger verstanden werden, dessen Denken vom Tod und vom Ende her bestimmt war.
Für Hannah Arendt bildet das Rätesystem »die einzige Alternative« zur bürgerlichen Demokratie.
Arendt wurde jahrzehntelang vor allem aufgrund ihrer Studien über den Totalitarismus oder den Antisemitismus diskutiert. So ist etwa die Formulierung »Banalität des Bösen«, mit der sie den SS-Mann Adolf Eichmann bedachte und ihn als »Hanswurst« bezeichnete, bis heute bekannt. Arendt hatte den Prozess gegen den NS-Verbrecher 1961 in Jerusalem verfolgt und daraufhin ihr viel beachtetes Buch »Eichmann in Jerusalem« geschrieben.
Etwas weniger bekannt sind ihre Aussagen zur politischen Organisation von Gesellschaften. Auf der Basis der »Natalität« vertrat Arendt ein Konzept von politischer Pluralität. Demnach bestehe in der Politik zwischen den Menschen potenziell Freiheit und Gleichheit. Bedingung dafür sei die Beteiligung und Entscheidung der unmittelbar Betroffenen. Daher stand Arendt, gleichwohl keine Sozialistin, repräsentativen Demokratien kritisch gegenüber und bevorzugte Rätesysteme sowie Formen direkter Demokratie.
In ihrem Buch »Über die Revolution«, erschienen 1963, geht Hannah Arendt so weit, zu sagen, das Rätesystem bilde »die einzige Alternative« zur bürgerlichen Demokratie. Nur in dieser politischen Form der Selbstverwaltung könne sich »die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art« verwirklichen. Um dies zu ermöglichen, müssten in einem politischen Prozess zwei Aspekte zusammengedacht werden: einerseits die Freiheit von Unterdrückung, Armut und Verelendung, andererseits aber auch die Freiheit, Neues zu beginnen und im Lichte der Öffentlichkeit alle Aspekte des Gemeinwesens in einer neuen Form der revolutionären Kommunikation und Organisation der beteiligten Menschen zu diskutieren.
Im Ungarischen Volksaufstand von 1956, den Arendt genau beobachtete, sah sie diese Aspekte verwirklicht. Die Revolution begann am 23. Oktober 1956 mit einer friedlichen Großdemonstration in Budapest, auf der demokratische Veränderungen sowie ein Ende der sowjetischen Besatzungsmacht gefordert wurden. In den kommenden Wochen gründeten sich überall in Ungarn spontan Räte – an Universitäten, in Betrieben oder Nachbarschaften – die versuchten, die Gesellschaft auf basisdemokratischen und selbstverwalteten Grundlagen umzugestalten. Die ungarischen Revolutionäre wollten dabei nicht den Sozialismus beenden, sondern ihn durch Selbstverwaltung und Mitbestimmung ergänzen.
Darin erkannte Arendt die Bedeutung der Ungarischen Revolution. Sie sah in den Räten eine Form kooperativer Macht, die spontan in Krisenzeiten entsteht und die Herrschaft herausfordert, ohne eigene hierarchische Strukturen aufzubauen. Dies war für Arendt ein klares Zeichen für einen demokratischen Aufbruch gegen die Diktatur, für die Erhebung der Freiheit gegen die Tyrannei. Die Ungarische Revolution verkörperte für sie par excellence die Hoffnungen revolutionären Handelns. Das zentrale Streben nach politischer Freiheit, ergänzt durch das vollständige Fehlen einer zentralisierten Führung sowie einer einheitlichen und vorgegebenen (Partei-)Ideologie, die Spontaneität des Aufstands und die neuen politischen Organisationsformen, namentlich die Räte – all dies begeisterte Arendt. Sie feierte »jene revolutionären Räte – Arbeiter- und Soldatenräte –, welche mit einer Regelmäßigkeit ohnegleichen im Aktionsfeld der Geschichte erscheinen, wann immer das Volk für ein paar Tage oder Wochen oder Monate die Chance hat, seinem eigenen politischen Menschenverstand zu folgen, ohne von einer Partei am Gängelband geführt oder von einer Regierung gelenkt zu werden«.
Die Breite der ungarischen Bewegung brachte schließlich die Machthaber in Moskau auf den Plan. Schließlich beendeten sowjetische Panzer den Aufstand blutig. »Vielleicht hat die russische Armee gerade deshalb so unerbittlich und so schnell zugeschlagen«, mutmaßte Arendt, »weil die Ungarische Revolution nichts restaurieren wollte und keineswegs ›reaktionär‹ war, sondern weil in ihnen das ursprüngliche Sowjet-System, das Rätesystem, das aus der Oktober-Revolution entstanden war, wieder auf die Bühne der Geschichte getreten war.«
Auch in unserer Gegenwart, die eher von politischer Hoffnungslosigkeit statt Aufbruch geprägt ist, haben Arendts Gedanken nichts an Aktualität verloren. Gerade da die Demokratie von vielen Seiten unter Beschuss steht, ist der Gedanke Arendts, dass es sich bei den Räten um eine Wiederbelebung der Demokratie und um das Gestaltungsprinzip einer neuen Gesellschaft handelt, wertvoll. Gegen Demokratieabbau, Krieg und Autoritarismus stellt sie die Selbstorganisierung der Menschen »von unten«. Das ist ein Anfang.
Christopher Wimmer ist Soziologie. Jüngst erschien sein Buch »Alles muss man selber machen. Zur Geschichte der Rätebewegungen, von der Pariser Kommune bis Rojava« (Dietz Berlin 2025, 320 S., br., 24 €), in dem er u.a. mit Hannah Arendt auf historische Rätebewegungen blickt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195931.todestag-hannah-arendt-neubeginn-und-selbstverwaltung.html