Wenn Anselm Schmidt von seiner Herkunft erzählt, beginnt er in einem Ort, der längst einen anderen Namen trägt. 1943 wurde er in Dramburg geboren, einem westpommerschen Städtchen, dessen Krankenhaus die Zeiten überstanden hat, auch wenn heute Drawsko Pomorskie über der Tür steht. In Pielburg (heute Piława), dem damaligen Pfarrdorf seines Vaters Joachim, verbrachte die Familie die ersten Jahre, bevor 1946 das Schicksal sie nach Hessen führte.
Doch die Jahre im pommerschen Pfarrhaus wirkten lange nach. In der Familie wurde viel darüber gesprochen, was sich dort bis 1945 ereignet hatte. »Mein Vater sagte, dass er, wenn wieder ein Treffen war, mit dem Zug nach Berlin fuhr. Am Stettiner Bahnhof wurde er abgeholt, ins Auto gesetzt – und bekam einen Sack über den Kopf, damit er nichts verraten konnte, sollte er aufgegriffen werden«, erinnert sich sein Sohn heute.
Das Ehepaar Schmidt war Teil der pommerschen Pfarrhauskette, deren geheime Treffen auch in Berlin stattfanden. Ziel war es, Jüdinnen und Juden zu verstecken – so auch Andrea Wolffenstein, die ab Januar 1943 in Pielburg Unterschlupf fand.
»In der Familie nannten wir sie die ausgebombte Tante«, erzählt Schmidt. »Sie lebte mit gefälschten Papieren unter dem Namen Charlotte Maly. Tante Charlotte – so kannte man sie. Und wir sagten: Sie kommt aus Berlin. Dort fallen die Bomben.«
Andrea Wolffenstein[1] gehörte nach ihrer Konversion zusammen mit ihrer Schwester Valerie zur Dahlemer Bekenntnis-Gemeinde. Von dort wurde sie nach Pommern vermittelt, Valerie fand in Bayern Zuflucht. In den 1980er Jahren schrieb sie darüber ein Buch.[2] Darin heißt es: »Meine Schwester Andrea hatte bis dahin in Hinterpommern gelebt. Es waren die Pfarrer Karl Heinrich Reimer, Joachim Schmidt, Johannes Strecker und ihre Familien, die sie mit größter Herzenswärme aufnahmen, sodass auch sie hier Freunde fürs Leben gewannen.«
Als die Rote Armee immer weiter vorrückte, wurden schließlich auch Frauen zum Ausheben von Schützengräben herangezogen. Mehr als sechzig Arbeitsfrauen mussten auf dem Dachboden der Scheune beim Pfarrhaus in Pielburg untergebracht werden. Für Andrea Wolffenstein wurde es dort zu gefährlich; sie wechselte ihr Versteck. Beim Pfarrerehepaar Strecker in Wusterhanse, dem heutigen Ostrowasy, fand sie erneut Zuflucht.
»Hier, in dem sehr kleinen Pfarrhaus, das sich kaum von den Bauernhäusern des Ortes unterschied, musste sie völlig verborgen leben und durfte ihr Zimmer nicht verlassen«, erinnert sich ihre Schwester. »Über ihr wohnte eine Evakuierte, die ein Baby erwartete. Sie durfte auf keinen Fall bemerken, dass jemand Unbekanntes im Haus war. Also wurden alle Gespräche im Flüsterton geführt. Andrea blieb meist im Bett, weil jeder Schritt vermieden werden musste.«
Das Buch von Valerie Wolffenstein, in das auch die Erinnerungen ihrer Schwester eingeflossen sind, sowie die mündliche Überlieferung aus der Familie Schmidt – sie alle gehören zu den wenigen erhaltenen Zeugnissen über die Pfarrhauskette in der pommerschen Seenplatte. Bis heute sind lediglich drei solcher Hilfsgemeinschaften im damaligen Deutschen Reich belegt: in Württemberg, in Pommern und in Ostpreußen. Ob es darüber hinaus auch in Norddeutschland, in Hessen oder Bayern vergleichbare konspirative Netzwerke gegeben hat, ist weitgehend unbekannt – aber nicht auszuschließen.
Die Historikerin Martina Voigt forscht in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin seit vielen Jahren über die Pfarrhausketten. Noch in den 1980er Jahren versuchte sie, Überlebende zu interviewen – doch alle wollten nur unter Pseudonym genannt werden. »Ich habe diese Vorsicht immer noch gespürt«, erinnert sie sich. »Niemand wollte etwas sagen, ohne sich vorher mit den anderen abzusprechen. Die waren total verängstigt.«
Hinzu kamen die Erfahrungen der Nachkriegszeit, in der jene, die einst geholfen hatten, beschimpft und bedroht wurden. »Da ist zum Beispiel der Fall einer Berliner Helferin, die Ende der 1950er Jahre das Bundesverdienstkreuz erhielt. Das stand in der Zeitung«, erzählt Voigt. »Daraufhin erhielt die Frau Morddrohungen und musste unter Polizeischutz gestellt werden.« Die Atmosphäre jener Jahre ließ keine öffentliche Auseinandersetzung zu. »Es hat niemand danach gefragt – außer in kleinen, privaten Gruppen«, sagt die Historikerin. Der Widerstand der Pfarrhausketten wurde zunächst nicht als Form des Widerstands anerkannt.
Was man heute weiß: Seinen Anfang nahm alles wohl in Berlin-Prenzlauer Berg, in der Gethsemane-Gemeinde. Dort predigte der Bekenntnis-Pfarrer Walter Wendland, der in erbitterten Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen stand und gesundheitlich schwer angeschlagen war. Seine Frau Agnes wollte ihn schützen und erzählte ihm nichts. Heimlich organisierte sie Treffen von Gleichgesinnten, um eine »Judenhilfe« aufzubauen.
Es gab zwei Treffen in der Pfarrwohnung in der Gethsemanestraße 9. Dort kam ein kleiner Kreis zusammen, dessen Mitglieder einander vertrauen konnten. »Es gab Absprachen, dass man im Notfall jüdische Menschen in die Pfarrhäuser der Region vermitteln konnte«, sagt Martina Voigt.
Während die pommersche Kette weitgehend im Verborgenen blieb, ist das württembergische Netzwerk[3] besser dokumentiert. Der jüdische Psychiater Herman Pineas hat unmittelbar nach seiner Befreiung gemeinsam mit seiner Frau einen ausführlichen Bericht darüber verfasst. Auch das Ehepaar Max und Ines Krakauer hielt seine Erinnerungen an das Leben in den Verstecken fest.
Zudem veröffentlichte der Pfarrer Peter Haigis ein Buch über die Hilfsaktionen: »Sie halfen Juden. Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand«. Seine Gemeinde Stetten im Remstal war Teil der württembergischen Pfarrhauskette. Max und Ines Krakauer[4] waren dort mehr als zwei Jahre untergetaucht und verbrachten in Stetten auch die letzten Kriegstage – bis zu ihrer Befreiung durch die Amerikaner.
Treibende Kraft im Südwesten war der gut vernetzte Pfarrer Theodor Dipper, Leiter des Büros der Bekennenden Kirche in Württemberg. Er sprach gezielt Menschen an, die er für verlässlich hielt und brachte sie zusammen. »Es gab etliche Juden, die unterwegs waren, auch aufgrund der Dringlichkeit der Wannsee-Konferenz und des Beschlusses zur totalen Judenvernichtung«, sagt Peter Haigis.
Schätzungen zufolge versteckten mehr als 40 Pfarrhäuser in Württemberg jüdische Menschen. Der Autor Eberhard Busch nennt in seinem Buch über Kurt Müller, Pfarrer der Reformierten Gemeinde in Stuttgart, sogar mindestens 60 Pfarrhäuser. Insgesamt sollen 150 bis 200 Christen an der württembergischen »Judenhilfe« beteiligt gewesen sein.
Der Verfolgte Herman Pineas schrieb dazu in seinen Erinnerungen: »Als der Theologe Karl Barth unter dem Druck des Hitlerregimes seinen Lehrstuhl in Bonn mit dem in Basel vertauschte, forderte er vor seiner Abreise seine ehemaligen Schüler mit Pfarrstellen auf, so viele Juden wie möglich zu retten.« In Württemberg folgte dieser Aufforderung die Sozietät, eine lose Verbindung protestantischer Pfarrer, an deren Spitze der aus Bremen stammende Geistliche Kurt Müller in Stuttgart stand.
Obwohl die Nazis Müller und andere beteiligte Pfarrer im Visier hatten, flog das Netz nie auf. Wie viele Juden insgesamt gerettet werden konnten, ist bis heute unbekannt.
Den Helfenden ging es in Württemberg vor allem um Menschlichkeit und Nächstenliebe – nicht um Mission oder religiöse Überzeugung. Anders erging es Rainer Pineas, dem Sohn von Herman Pineas: Im Sommer 1939 erhielt er zusammen mit 19 anderen jüdischen Kindern über eine »protestantische Sekte« die Erlaubnis, nach Schottland auszureisen. Der Vater erinnert sich später: »Rainer wurde dort zum Christentum hin beeinflusst, aber wir waren machtlos dagegen.«
Abgesehen davon schien die Pfarrhauskette nahezu reibungslos zu funktionieren. Wenn ein Haus zu sehr im Visier der Behörden stand, wurde es aus der Kette herausgenommen. Absprachen fanden ausschließlich persönlich statt, nicht über Telefon oder Brief – aus Angst, überwacht zu werden.
»Es war im Grunde kaum ein Problem, Geflüchtete in den Gemeinden unterzubringen. Pfarrhäuser waren groß, sie hatten viele Räume, und es war üblich, Bombenflüchtlinge aus den Städten aufzunehmen. Zum Teil wurde dabei auch mit gefälschten Papieren gearbeitet«, erzählt Peter Haigis. Dennoch war ein häufiger Wechsel des Quartiers notwendig.
Grund dafür war die Anmeldepflicht. »Wenn Leute sechs oder acht Wochen an einer Stelle lebten, mussten sie angemeldet werden«, erklärt Martina Voigt. »Dafür brauchte man Papiere, die nicht als Fälschung auffielen. Die Geschichte von den ausgebombten Verwandten war immer nur kurzfristig haltbar.«
So blieben die Untergetauchten oft nur eine Woche oder 14 Tage an einem Ort. Sie lebten aus dem Koffer und wussten selten, wohin sie als Nächstes kamen. Ihre neuen Gastgeber kannten sie nicht und mussten sich immer wieder auf neue Verhältnisse einstellen. »Mit zunehmender Länge der Flucht war das psychisch belastend«, sagt Peter Haigis. »Es gibt Zeugnisse davon, dass manche schier ausgerastet sind – und damit sich selbst und andere in Gefahr brachten.«
Die Pfarrhausketten sind ein Beispiel für eine heute kaum bekannte Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Für Peter Haigis sind sie vorbildlich: »Vielleicht ist das etwas, was wir lernen müssen. Wir haben die Vorstellung, dass das System der Nazis wasserdicht war. Doch es hatte viele Löcher. Widerstand im Kleinen war viel eher möglich, als wir denken. Aber er wurde nicht ausgeübt. Das ist der Skandal – dass es so viele Mitläufer gab.«
Anselm Schmidt ist jedenfalls froh, dass in seiner Familie offen über die Pfarrhauskette in Pommern gesprochen wurde. Doch Ablehnung erlebte auch er nach dem Krieg noch, zum Beispiel in der Schule in Hessen: »Die Hälfte der Lehrer waren stramme Nazis. Mein Vater hat uns immer ermutigt, dagegenzuhalten. Wir Kinder waren froh, dass unsere Eltern auf der richtigen Seite standen.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195950.judenverfolgung-im-schutze-der-pfarrhaeuser.html