nd-aktuell.de / 04.12.2025 / Kultur

Wo sind die Aktionen der Behinderten, die stören?

Die Behindertenbewegung erlahmte mit ihren Erfolgen: Udo Sierck blickt auf die letzten 50 Jahre zurück

Frédéric Valin
Das war der Paternalismus der 70er Jahre: Franz Beckenbauer besucht mit dem FC Bayern ein Wohnheim behinderter Kinder zur Autogrammstunde
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Als Startschuss der Krüppelbewegung[1], die sich selbst so nannte, gilt allgemein eine Straßenblockade in Frankfurt am Main im Jahr 1974. Sie entstand aus einer Gruppe rund um Gusti Steiner, Sozialarbeiter und Rollstuhlfahrer, die sich 20 Minuten lang vor eine Straßenbahn stellte. Denn sie kamen nicht in sie rein. Sie wollten den Reisenden einmal demonstrieren, wie es ist, wenn man einfach nicht weiterkommt.

Aus dieser kleinen, fast unscheinbaren Aktion entwickelte sich eine Bewegung, die tatsächlich für viele Veränderungen sorgte – und auch für sehr viel Aufregung. Udo Sierck betrachtet auf 140 Seiten ihre Geschichte aus Sicht von Aktivist*innen. Sein Buch »Frech und frei« ist eine Chronik der Ereignisse (insbesondere in der BRD, wenngleich es auch ein Kapitel zu Initiativen in der DDR gibt) und trägt eine klare Botschaft: Widerstand lohnt sich, gerade solcher, der Regeln bricht.

Udo Sierck zählt zu den prägenden Figuren der Behindertenrechtsbewegung; an vielen der Aktionen, die er beschreibt, hat er selbst teilgenommen, manche sogar mitinitiiert. Sein Buch ist nicht nur Geschichtsschreibung aus erster Hand, sondern auch großzügig illustriert mit Flyern und Flugblättern, die die Forderungen aus fünf Jahrzehnten dokumentieren.

Dass die Behindertenrechtsbewegung bisher erfolgreich war, daran besteht kein Zweifel. In vielen einzelnen Bereichen konnten Fortschritte erzwungen werden, die das Leben vieler Menschen deutlich verbessert haben. Das gilt für das Thema Mobilität: In Hamburg beispielsweise sind inzwischen 90 Prozent der öffentlichen Verkehrsmittel rollstuhlgerecht. Zumindest nominell: Denn auch Hamburg hat Schwierigkeiten mit der Wartung seiner Aufzüge.

Dass weitere Proteste zu diesem Thema nötig sind, dafür sorgt allein schon die stiernackensture Haltung der Deutschen Bahn, die immer wieder mit vollmundigen Ankündigungen auffällt, deren Umsetzung dann oft genug sehr zu wünschen übrig lässt. Dazu passt, dass in der aktuellen »Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene« Verkehrsminister Patrick Schnieder Barrierefreiheit unter »Sauberkeit und Sicherheit« verhandelt und nicht etwa unter Gemeinwohl.

Auch im Bereich der gesellschaftlichen Akzeptanz gibt es durchaus Fortschritte: Ein weiterer zentraler Moment der Krüppelbewegung war das Frankfurter Skandalurteil von 1980. Eine Urlauberin hatte geklagt, weil in ihrem Hotel auch eine Gruppe Behinderter gewesen sei, was sie in ihrem Wohlbefinden gestört habe. Das Landgericht Frankfurt billigte ihr eine Entschädigung zu. Der Vorsitzende Richter Otto Tempel konstatierte in seinem Urteil, es sei nicht zu verkennen, dass »eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann«. Dass es Leid auf der Welt gebe, sei nicht zu ändern, »aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will«. Zum Protest gegen dieses Urteil versammelten sich am 8. Mai 1980 in Frankfurt am Main 5000 Menschen, die größte Behindertendemonstration in der Geschichte der Bundesrepublik.

Ein wesentlicher Fortschritt – zumindest auf dem Papier – ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die von Aktivist*innen auf der ganzen Welt erstritten wurde. Wesentlich daran ist, dass sie einen neuen Behinderungsbegriff etabliert: einen, der auf der Menschenwürde basiert und nicht auf Defizite abhebt.

Allerdings wird dieser Behinderungsbegriff vom Gesetzgeber nicht mit Leben gefüllt: Die Parallelwelten der Heime und der Werkstätten existiert in Deutschland nach wie vor. Und es sind nach wie vor Orte der Gewalt, was nicht nur die Morde im Potsdamer Oberlinhaus oder die systematischen Übergriffe in Bad Oeynhausen beweisen: Sierck zitiert auch die Studie des Zentrums Qualität in der Pflege, in der 40 Prozent der 1000 befragten professionell Pflegenden angaben, im letzten halben Jahr eine zu pflegende Person gewalttätig angegangen zu haben.

Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, die Heimstruktur abzubauen zugunsten dezentraler Wohnangebote; es hat sich auch dazu verpflichtet, die Parallelstrukturen der Werkstätten und der Sonderschulen aufzulösen. Das ist bis heute nicht passiert. Der letzte UN-Bericht der Prüfkommission hat in diesen Bereichen mehr Rück- als Fortschritte verzeichnet.

Dieser Backlash geht einher mit einer Umwertung der Begriffe. Udo Sierck schreibt über die aktuellen Kämpfe: »Die emanzipatorischen Behindertenbewegungen haben ›Selbstbestimmung‹ als ein gemeinsames Ringen verstanden, um möglichst die Kompetenz über den eigenen Alltag zu bekommen und dabei über den Tellerrand der Behindertenpolitik hinauszublicken. Selbstbestimmung meint heute hingegen häufig, sich auf Kosten anderer durchzusetzen.«

Was den Widerstand dagegen betrifft, ist Udo Sierck pessimistisch. »Wo sind die Aktionen«, fragt er, »die nicht nur symbolisch sichtbar sind, sondern gezielt auf Störung setzen, um Veränderung zu erzwingen?« Die Behindertenrechtsbewegung ist tatsächlich ein Stück weit Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Die Fortschritte, die sie erzielt hat, führen zu einer geringeren Mobilisierung. Gleichzeitig hat sie ein Problem, das andere Diskriminierte in diesem Ausmaß nicht kennen. Denn sie hat sehr unterschiedliche, teils auch widersprüchliche Anliegen zu vertreten, nämlich die jener seelischen, intellektuellen und körperlichen Behinderungen.

Die Bewegung zerbrach aber auch daran, dass viele Aktivist*innen sich ab Mitte der 80er institutionalisieren ließen und versuchten, ihre Anliegen im Rahmen von Parteiarbeit – insbesondere bei den Grünen – durchzubringen. Leider hat Udo Sierck, der bei der Hamburger Grün-Alternativen Liste und in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Menschen bei den Grünen mitgearbeitet hat, im Buch auf eine Analyse verzichtet. In einem Interview mit der Online-Zeitung »Schattenblick« hat er die Probleme einmal so geschildert: »Wir hatten ja die falsche Vorstellung, die Utopie, dass die Grünen, weil sie auch Sozialbewegungen aufgesogen haben, andere Menschen wären. Das war natürlich Humbug. Wir hatten dort genau dieselben Probleme wie überall. Dann stellt sich einem die Frage: Gehst du woandershin, oder bleibst du in den grünen politischen Gremien stecken? Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Ich habe gesagt: Nein, das mache ich nicht mit.«

Diese Selbstinstitutionalisierung hat die Bewegung sozusagen befriedet. Dass es sich aber lohnen würde, die alte Parole der Bewegung – »Jedem Krüppel einen Knüppel« – zu aktualisieren, davon erzählt unter anderem dieses Buch.

Udo Sierck: Frech und frei. 50 Jahre Kämpfe der Behindertenbewegung. Assoziation A, 152 S., br., 18 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/146628.die-kinder-quasimodos.html?sstr=udo sierck