nd-aktuell.de / 04.12.2025 / Politik

Kapitalismus, du Opfer

Wirtschaft und Wachstum leiden unter geopolitischen Spannungen. Dennoch sind Kapitalismus und Krieg keine Gegensätze. Sie gehören zusammen.

Stephan Kaufmann
Wessen Sicherheit? Der US-Flugzeugträger »USS Gerald R. Ford« kreuzt vor Venezuela
Wessen Sicherheit? Der US-Flugzeugträger »USS Gerald R. Ford« kreuzt vor Venezuela

Unsicherheit ist der neue Normalzustand», stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick fest. Die USA, China und Europa versuchen, ihre ökonomischen Abhängigkeiten voneinander zu lösen. Der einheitliche Weltmarkt zerfällt. In der Folge klagen Ökonom*innen darüber, dass geopolitische Spannungen, Sanktionen, Zölle, aktuelle und drohende Kriege die Konjunkturaussichten verdüstern und die Investitionstätigkeit hemmen. Sie stellen die Weltwirtschaft als Opfer des zunehmend kriegerischen Umgangs der Weltmächte miteinander dar und plädieren für eine regelbasierte Weltordnung. Dabei ist es genau diese Ordnung, die die Kooperation regelmäßig in ein gewaltvolles Gegeneinander umschlagen lässt.

Die Sicht der Ökonomen

Aus Sicht der Ökonom*innen leidet die Wirtschaft unter den eskalierenden internationalen Spannungen. «Mit einer Abschottung vom Weltmarkt schaden sich die USA vor allem selbst, weil die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung verloren gehen», erklärt Julian Hinz vom Institut für Weltwirtschaft. Zu den aktuellen Risiken für die deutsche Wirtschaft zählt der IWF «die Verschärfung geopolitischer Spannungen und eskalierende Handelskonflikte, die das Vertrauen, die Investitionen und den Handel untergraben». Letztlich, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, «gibt es durch Handelskonflikte nur Verlierer». Und Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank, mahnt: «Wenn wir es mit der Erhaltung unseres Wohlstands ernst meinen, müssen wir kooperative Lösungen anstreben – auch angesichts geopolitischer Differenzen.»

Die Ursachen dieser «Differenzen» bleiben bei diesen Analysen eher im Dunkeln. Zuweilen werden sie gefunden in der Politik von «Autokraten», zuweilen auch in der Weltwirtschaft selbst, aber nur insofern, als dort Regierungen eine «unfaire» oder «verzerrende» Politik betreiben, die ökonomische Effizienz und das Gleichgewicht stören. Dieser Ursachenforschung zugrunde liegt ein Bild des Weltmarktes, auf dem zwar konkurriert wird, diese Konkurrenz aber erstens Kooperation erfordert, die zweitens – bei richtiger Politik – zum allseitigen Wohlstand führen kann. Eine Harmonie der Interessen. Einen systemischen Grund für kriegerische Konflikte nennen Ökonom*innen nicht. Nur Fehler und Irrtümer, Dummheit und Kurzsichtigkeit der Regierenden. Die Wirtschaft ist unschuldig.

Dagegen lässt sich einwenden, dass im herrschenden Wirtschaftssystem der ressourcenfressende Einsatz oder das Vorhalten von militärischer Macht notwendige Mittel für ökonomischen Erfolg sind oder anders: dass die Art und Weise, wie heutzutage weltweit produziert und verteilt wird, Rüstung und Krieg notwendig machen. Warum ist das so?

Macht schafft Wachstum schafft Macht

Die Konflikte um die Ukraine und Taiwan oder auch Donald Trumps Anspruch auf Grönland erwecken den Anschein, als ginge es den drei Weltwirtschaftsmächten um Territorien, um die Verschiebung von Staatsgrenzen. Doch stehen die militärische Eroberung und Besetzung anderer Landesteile inklusive ihrer Märkte und Rohstoffe derzeit weder auf dem Programm der USA noch dem der EU oder Chinas. Was sie als Geopolitik betreiben, ist kein Kolonialismus alter Prägung, keine exklusive Sicherung von Gelände, hinter dessen Grenzen man sich dann zurückzieht. Den maßgeblichen Akteuren geht es vielmehr ums Ganze. Denn jeder von ihnen braucht den Rest der Welt für sein Wachstum – als Absatzmarkt und Anlagesphäre, als Lieferant von Vorprodukten, Rohstoffen, Investitionsgeldern und Arbeitskräften. Ziel ist also nicht die Abkopplung des eigenen Marktes und Machtbereichs von den Konkurrenten. Sondern die ökonomische Benutzung der Konkurrenten als Mittel des eigenen Wachstums. Darin besteht ihre Abhängigkeit voneinander.

Diese wechselseitige Benutzung verläuft über lange Zeit friedlich – wenn alle Beteiligten zufrieden sind mit den nationalen Erträgen des Weltmarkts oder wenn es den relativen Gewinnern der Konkurrenz gelingt, die Unzufriedenen in Schach zu halten, indem sie jeden Widerstand gegen die herrschende Ordnung als aussichtslos erscheinen lassen.

Inzwischen aber ist dieser Friede dahin. Denn unzufrieden sind nicht länger nur die abhängten oder ausgebeuteten Regionen der Welt. Unzufrieden ist der mächtigste Profiteur des Systems, die USA. Diese politische Unzufriedenheit existiert nicht erst seit Trump. Er ist nur derjenige, der sie mit aller Gewalt zu beheben verspricht: «America first!»

Quelle der US-Beschwerde ist keine Wirtschaftskrise, kein Börsenabsturz und kein Anstieg von Inflation oder Arbeitslosigkeit, im Gegenteil: Das starke Wirtschaftswachstum der letzten Jahre inklusive Aktienkursrekorden wird von Ökonom*innen als «US-exceptionalism» bewundert. Unzufrieden ist die US-Regierung nicht mit dem Wachstum, sondern mit dem Zustand des Weltsystems in einem grundsätzlichen Sinn: Dieses System hat dazu geführt, dass den USA mit China ein ebenbürtiger Konkurrent erwachsen ist. Mit der Relativierung ihrer Dominanz sehen die Vereinigten Staaten ihre globale «Leadership» und damit ihre «Nationale Sicherheit» bedroht, weswegen sich der US-Präsident berechtigt sieht, auf Basis von Notstandsdekreten die geltende Ordnung zu demontieren. «Wir sind betrogen worden!»

Trumps Diagnose einer Bedrohung der US-Position ist kein bloßer Wahn, sondern folgt einer ökonomischen Vernunft. Denn politische Dominanz ist im herrschenden Wirtschaftssystem die entscheidende Produktivkraft. Zwar ist eine dominante Macht nicht automatisch erfolgreich in der Konkurrenz um Gewinne, Umsätze, Marktanteile. Aber sie kontrolliert die Bedingungen dieser Konkurrenz: nach welchen Regeln sie verläuft, was Unternehmen und Standorten verboten ist, was erlaubt und unter welchen Voraussetzungen. Die Macht, diese Bedingungen des Zugangs zu den Gütern der Welt festzulegen, beinhaltet die Freiheit, unerwünschte Ergebnisse des Marktes zum eigenen Vorteil zu korrigieren, dadurch die Konkurrenten zu schwächen, was die eigene Macht wiederum zementiert.

In dieser Rolle – als Weltordner und Regelsetzer – sieht sich die US-Regierung herausgefordert. Sie befördert China offiziell vom Wettbewerber zum «Rivalen». Und die EU zieht mit, da ihr ökonomischer Erfolg und damit ihr weltpolitischer Status an einer Ordnung hängt, die die USA garantieren und die die EU-Staaten nicht aus eigener Kraft garantieren können – nicht ohne die USA und schon gar nicht gegen die USA.

«Wer nicht wächst, droht geopolitisch zu verschwinden.»

Jared Cohen Goldman-Sachs-Banker

Damit tritt neben die «normale» Weltmarkt-Konkurrenz um Kosten, Erträge und Renditen die Meta-Konkurrenz der Staaten um den Markt selbst, also um seine Verfasstheit und Regeln. Und in dieser Konkurrenz zählt allein Macht, also die Fähigkeit, die Gegenseite zur Not zwingen zu können. «Europa muss dringend seine Verteidigungsfähigkeiten stärken, um seine strategische Autonomie zu sichern», so ein Papier der Ökonom*innen Philipp Hildebrand, Hélène Rey und Moritz Schularick. «Die Dringlichkeit kann nicht genug betont werden. Russische Aggression, sich wandelnde Zusagen der USA und globaler Wettbewerb um Handel, Technologie, kritische Mineralien, Talente und geistiges Eigentum» machten die Aufrüstung nötig.

Die entscheidende Waffe in dieser Meta-Konkurrenz ist allerdings die heimische Wirtschaftskraft selbst. Zum einen, weil ihr Wachstum die Mittel zur militärischen Aufrüstung einspielt. Zum anderen, weil sie ökonomische Abhängigkeiten und damit Erpressungshebel bietet, die man gegen die Konkurrenz in Anschlag bringen kann. «Es ist eine Binsenweisheit, dass es in Handelskriegen nur Verlierer gibt», so die Bank ING, «aber einige verlieren mehr als andere.» Die Ökonomie des laufenden Handelskrieges besteht also darin, dem Gegner Schaden zuzufügen, auch auf Kosten von eigenen Verlusten, die aber geringer ausfallen müssen als die des Gegners.

Das ist die Logik des Krieges, die auf einer Neudefinition der Lage basiert: Geschäftspartner von früher sind zu Gegnern geworden, deren Interessen nicht mehr durch Handelsverträge berücksichtigt, sondern durch Sanktionen gebrochen werden sollen. Und etablierte Geschäftsbeziehungen werden zu «strategischen Abhängigkeiten», die reduziert werden müssen, um «strategische Autonomie» zu erlangen. Das Ziel «strategische Autonomie» bedeutet, die eigenen Abhängigkeiten zu reduzieren und die der anderen zu erhöhen. «Reindustrialisierung», «Technologieführerschaft» und «Sicherung von Lieferketten» lauten dafür die Stichworte, also die Ansiedlung ökonomischer Machtmittel im eigenen Machtbereich. In China heißt diese Strategie «Dual Circulation», mit der man eine gewisse Autarkie erreichen will. Weder in China, noch in den USA oder der EU ist damit allerdings ein Rückzug auf eigenes Gebiet gemeint; sondern die Herstellung einer Unangreifbarkeit, um den Kampf um den Weltmarkt freier führen zu können. Jede Maßnahme zur Stärkung der eigenen Sicherheit führt damit zu vermehrter Unsicherheit beim Gegner. Denn Verteidigungsfähigkeit ist Kriegsfähigkeit.

In diesem großen Ringen haben auch die kleinen Leute ihre Funktion: Denn sie sind die entscheidende Ressource bei der Herstellung von Wirtschaftskraft. «Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten», sagte Bundeskanzler Friedrich Merz. Sprich: Nicht nur sollen mehr Stunden gearbeitet werden, pro Stunde soll auch mehr Wirtschaftsleistung herauskommen. Denn «wer nicht wächst, droht geopolitisch zu verschwinden», so der Goldman-Sachs-Banker Jared Cohen.

Wettbewerbsfähig und kriegstüchtig

Einerseits ist es zutreffend, wenn Ökonom*innen darauf hinweisen, dass geopolitische Spannungen und kriegsträchtige Auseinandersetzungen die Mehrung des Wohlstands behindern und dass Kooperation in der Gesamtsicht effizienter wäre. Doch existiert dieser kapitalistische Wohlstand nicht als globales Gemeinschaftsgut, das in internationaler Kooperation hergestellt wird. Stattdessen ist die Weltwirtschaftsleistung schlicht die Addition von Summen, die als Nationaleinkommen oder Bruttoinlandsprodukt berechnet werden – eben als ökonomische Größen nationaler Standorte, die ebenso mit- wie gegeneinander um Anteile am Wachstum ringen. Wie erfolgreich sie dabei sind, hängt letztlich von ihrer Fähigkeit ab, die anderen zu beherrschen – ihnen also die Bedingungen der Kooperation vorzuschreiben. Auf nichts anderes zielt Trumps «transaktionaler Ansatz», also seine Neigung, mit schwächeren Partnern «Deals» auszuhandeln.

Neben der ökonomischen Konkurrenz der Unternehmen und Kapitalstandorte läuft daher immer die Konkurrenz um politische Macht, die in Militär und Kriegstüchtigkeit ihr ultimatives Mittel hat und deren Stand anhand geopolitischer Testfälle laufend aktualisiert wird – von Taiwan bis zur Ukraine, bei deren Eroberung Russland durch China unterstützt wird. Wie diese Konkurrenz ausgeht, wird nicht dem Markt überlassen.