Nicht mal ein halbes Jahr hat sich die Landesregierung Zeit genommen, um die größte Gesetzesänderung der vergangenen Jahre im Berliner Parlament zu prüfen. Am Donnerstag stimmten die Koalition und die AfD-Fraktion für die Reform des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (Asog) – eine Novelle, die Schwarz-Rot auf 736 Seiten eingebracht hatte. Die Asog-Reform wurde somit trotz massiver Kritik der Opposition, der Landesbeauftragten für Datenschutz, sowie zahlreicher juristischer und bürgerrechtlicher Verbände verabschiedet. Es ist die zweite Asog-Reform unter Schwarz-Rot innerhalb von zwei Jahren.
Kritiker*innen befürchten, dass mit der Reform die Hauptstadt zur Überwachungsmetropole[1] werde. Auch zahlreiche Grundrechte würden durch sie verletzt. Denn sie beinhaltet nicht nur mehr Befugnisse für die Polizei[2], den Einsatz von teils illegaler Überwachungssoftware, sondern auch die Herabsetzung von Eingriffsschwellen. Nicht nur vermeintliche Terrorist*innen, auch vermeintliche Straftäter*innen, die Eigentumsdelikte begehen könnten, können nun überwacht werden. Und von jetzt an muss man nicht einmal einer Straftat verdächtig sein, um in Überwachungsmaßnahmen[3] zu geraten. Dazu reicht der Kontakt zu Verdächtigen.
Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Faktion Vasili Franco sagt im Abgeordnetenhaus, dass man sich mit der Reform »direkt zurück ins Jahr 1984« katapultiere. Damit spielt er auf George Orwells gleichnamigen dystopischen Roman an, der von einem totalitären Überwachungsstaat[4] erzählt. Für Franco ist klar: »Wer immer mehr Straftatbestände mit Terrorismus gleichsetzt, der verabschiedet sich vom Rechtsstaat.«
Sein Oppositionskollege, der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion Niklas Schrader macht im Abgeordnetenhaus auf das Sicherheitsverständnis von Schwarz-Rot aufmerksam: Allein für die in der Reform vorgesehene KI-gestützte Videoüberwachung an »kriminalitätsbelasteten Orten« wie dem Görlitzer Park sollen 12 Millionen Euro ausgegeben werden. Gleichzeitig kürzt die Koalition bei der sozialen Arbeit im Park. Viele Gewaltpräventionsprojekte würden wegen der unsicheren Finanzierung durch den Haushalt wegbrechen. »Sie haben der Sicherheit in der Stadt nachhaltig geschadet«, so der Abgeordnete. »Prävention, Jugendhilfe, Opfer- und Täterarbeit – wenn dies bei Ihnen nur ansatzweise den Stellenwert wie Überwachung hätte, wäre schon einiges gewonnen.«
Der innenpolitische Sprecher der SPD Martin Matz hält die Vorwürfe von der Opposition für nicht zutreffend. Die Koalition habe sich genau überlegt, welche Technik wie eingesetzt werden müsse, um die Bürgerrechte zu wahren. Außerdem habe es in Berlin noch nie »so viele gesetzliche Änderungen zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt« gegeben, so Matz. Die Asog-Novelle sieht die elektronische Fußfessel für Gewalttäter sowie ein verlängertes Verbot zur Betretung der gemeinsamen Wohnung von 14 auf 28 Tage bei gewalttätigen Partnern vor. Darauf müsse man stolz sein.
Sein Koalitionskollege, der innenpolitische Sprecher der CDU, Burkard Dregger, verweist auf die rechtliche Sicherheit für den »finalen Rettungsschuss« durch die Asog-Reform. Dieser wird auch »gezielter Todesschuss« genannt. Wenn jemand in einer unmittelbaren Situation jemanden töten will, ist es Beamten ab jetzt erlaubt, die Person zu erschießen. »Unsere Fürsorge gilt unseren Einsatzkräften«, sagt Dregger.
»Niemand wird sich der Überwachung entziehen können.«
Niklas Schrader
Innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion
Innensenatorin Iris Spranger (SPD) ist bei der Asog-Verabschiedung, wie auch bei der letzten Debatte dazu im Innenausschuss, nicht anwesend. Vertreten wird sie von Bausenator Christian Gaebler (SPD), der meint, dass man Berlin durch die Reform auf »die Höhe der Zeit« bringe. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) teilt zur Verabschiedung Folgendes mit: »Das neue Polizeigesetz ist ein klares Signal an die Berlinerinnen und Berliner: Ihre Sicherheit hat für uns höchste Priorität.«
Niklas Schrader spricht gegenüber »nd« von einem »nie dagewesenen Ausmaß« an Überwachungsausbau und Datenverarbeitung durch die CDU und SPD. »Niemand wird sich dem entziehen können«, so Schrader. Die Linksfraktion werde sehr genau prüfen, ob rechtliche Schritte gegen das Gesetzespaket möglich und aussichtsreich sind.[5] »Wir werden alles uns Mögliche tun, um die Grundrechte der Berliner*innen zu schützen.«
Im Abgeordnetenhaus verweist Schrader auch auf die Kritik an der Reform seitens zivilgesellschaftlicher Beobachter*innen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) zum »Neukölln-Komplex«. Der PUA sollte das Versagen der Sicherheitsbehörden hinsichtlich der Verhinderung der rechtsterroristischen Anschlagserie in Neukölln aufklären. »Statt den Abschlussbericht abzuwarten und die Ergebnisse des PUA zu berücksichtigen«, heißt es in der Kritik, werde nun die Asog-Reform von SPD und CDU vorangetrieben, den Parteien, die sich vor dem und im PUA wenig um die Aufklärung der extrem rechten Terrorserie bemüht hätten. »Nach den Aussagen der Sicherheitsbehörden im PUA scheiterten der Schutz Betroffener und die Ermittlungen im Neukölln-Komplex weder an der technischen oder personellen Ausstattung noch an Überwachungsmöglichkeiten.«
So gab es an vielen Tatorten Videoaufzeichnungen von Dritten, die die Polizei für ihre Ermittlungen und Beweissicherung gar nicht genutzt habe. »Wie wenig mehr Überwachungsmaßnahmen und Eingriffe in Grundrechte zur Sicherheit beitragen, verdeutlichten die PUA-Befragungen des Verfassungsschutzes (VS), der bereits über umfassende nachrichtendienstliche Mittel verfügt«, teilen die PUA-Beobachter*innen mit. So gab es umfassendes Überwachungsmaterial über Täter und Netzwerke, dessen Auswertung aber scheiterte. Zum Neukölln-Komplex gehört auch, dass gesperrte personenbezogene Informationen an Täter gelangten.
»Bei 27 000 Berliner Polizist*innen könne nicht garantiert werden, dass Daten und Kompetenzen nicht missbraucht würden, wurde dazu im PUA erklärt«, heißt es von den Beobachter*innen des Ausschusses. Mangelnder Datenschutz und unzureichende Bekämpfung rechter Netze in der Polizei hätten bisher schon Menschen aus der Zivilgesellschaft gefährdet – mit der Asog-Reform erhöht sich dieses Gefahrenpotenzial. Die Beobachter*innen aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex fordern, dass Grundrechte und Rechtsstaat gestärkt werden. »Diese ASOG-Novelle der Regierungskoalition tut das Gegenteil und muss deshalb gestoppt werden!«