Für den Abschluss des durch 38 erzgebirgische Orte führenden Kunstwegs »Purple Path« und zugleich des Kulturhauptstadtjahres hatten sich die Organisatoren im 20 Kilometer entfernten Oelsnitz im Wortsinn ein Higlight aufgehoben. Der US-Amerikaner James Turrell baute im Bergbaumuseum einen Lichtkunstraum, in dem sich Chemnitz-Assoziationen einstellen. Zunächst schwankend auf abschüssigem Boden findet man sich suggestiv schwebend in magischen Lichtstimmungen aufgehoben. Die sich zyklisch entladenden Stroboskop-Gewitter haben nichts Bedrohliches, sondern simulieren Energieentladungen.
Auch nach dem Bewerbungserfolg vor fünf Jahren hielten viele das Kulturhauptstadtprojekt noch für eine Hybris oder für ein Trösterchen. »Chemnitz 2025 war vor allem ein Projekt der Gemeinschaft«, resümiert nun mit sichtlicher Genugtuung der Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD). Der Programmchef der Chemnitz 2025 gGmbH Stefan Schmidtke und die kaufmännische Geschäftsführerin Andrea Pier dankten vor allem den Einwohnern und Mitwirkenden in Stadt und Umgebung. 260 Projektideen kamen aus Chemnitz selbst, und ohne die 1300 freiwilligen Helfer wäre die enorme Organisationsaufgabe nicht zu stemmen gewesen. In dem fast ein Kilo wiegenden Programmbuch musste man Gastspiele von auswärts regelrecht suchen.
Zu den zahlreichen bürgernahen Mitmachformaten zählten beispielsweise verschiedenste »Makerhubs«, ein Spielzeugmacherfestival in Seiffen, ein »Kiosk des Unwissens« in der Fritz-Heckert-Plattenbausiedlung, das brisante »Haamit-Heimat-heimaten«-Debattenfestival, ein Fest des klugen Spiels, ein Filmfest über das Älterwerden neben dem »Betonblühen«-Festival von jungen Menschen für junge Menschen. Geschätzt zwei Millionen Menschen, Gäste und Einheimische, sollen an den Veranstaltungen teilgenommen haben.
Für Chemnitz galt es, den kursierenden Ruf des Schmuddelkindes abzulegen, zugleich in die Stadtgesellschaft hinein integrierend zu wirken und somit ein gesundes Selbstbewusstsein zu fördern. Dazu gehörte selbstverständlich die stolze Präsentation des bislang Unentdeckten in Kunst und Kultur der Region. Die Kulturhauptstadt-Titelvergabe erfolgt schon lange nicht mehr allein nach affirmativen Kriterien künstlerischer Angebotsqualität, sondern stimuliert im weitesten Sinne urbane Entwicklungseffekte. Und die hatte Chemnitz nicht nur im materiellen Sinn nötig.
Einen Erfolg in diesen Kategorien kann man nicht messen, aber fühlen. Dieses Jahr hat eine entkrampfende Wirkung auf das Stadtklima ausgeübt. Nicht nur, weil es das Kulturhauptstadtbüro so konstatiert. Insbesondere westdeutsche Erstbesucher fahndeten vergeblich nach dem angeblichen Prototyp des schlechtgelaunten, ewig muffelnden Chemnitzers. In einer Umfrage der Plattform »MDR fragt« unter 13 000 Hörern und Zuschauern in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bescheinigen fast zwei Drittel der Befragten Chemnitz einen Imagegewinn. Die »ungesehene« Stadt, die im Logo-Wortspiel »C the unseen« (Chemnitz die Unbekannte, Ungesehene, Unentdeckte) zum Besuch aufforderte, hatte also Erfolg. Schon Ende August wurde ein Übernachtungszuwachs von 44,4 Prozent bekannt gegeben, Führungen waren überbucht.
Wer wollte zuvor schon nach Chemnitz reisen, das als »Ruß-Chemnitz«, Proletenstadt, Stadt ohne Mittelpunkt nach den Zerstörungen durch alliierte Bomber 1945 und schließlich als Nazistadt durch die fremdenfeindlichen Krawalle Ende August 2018 verschrien war? Sogar die populäre Band Kraftklub schwärmte nicht gerade von ihrer Heimatstadt: »Ich komm’ aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby …« Wer weiß schon, dass Chemnitz vor 100 Jahren schon einmal als »Stadt der Moderne« in Kunst und Architektur galt und nicht erst seit der Selbstaufwertungskampagne ab 2009? Denn Chemnitz musste nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der nahezu vollständigen Deindustrialisierung infolge der überstürzten deutschen Vereinigung 1990 zwei historische Tiefpunkte überwinden.
Zu den Entdeckungen zählt in diesem Jahr beispielsweise ein Verein namens Bordsteinlobby. 2018 gegründet, veranstaltet er Stadtführungen der anderen Art. Mit ihrem erwachten Ehrgeiz, Vorzüge und innovative Szenen der oft geschmähten ehemaligen Karl-Marx-Stadt sichtbar zu machen, nahmen Lisa Hetmank und Octavio Gulde das spätere Kulturhauptstadtmotto schon vorweg. Beide stammen aus dem Kulturhauptstadtkonkurrenten Dresden, verliebten sich aber während ihres Studiums in die neue Heimat Chemnitz.
Treibt die neue Lockerheit Bürger weniger in die Arme von Verführern und Pseudo-Erlösern von rechts? Nach den fremdenfeindlichen Krawallen Ende August 2018, ausgelöst durch den Mord an einem Deutschkubaner, bildete sich die Gruppe der Buntmacher*innen. Sie antworten skeptisch auf die Frage, ob die neue Stadtstimmung Nazis marginalisiert habe. Dass sieben Jahre nach 2018 angeklagte militante Neonazis vor dem Landgericht Chemnitz straffrei ausgehen, passt auch nicht so recht in die Kulturhauptstadteuphorie. Lisa Hetmank von der Bordsteinlobby vermutet ebenfalls, dass die Vielzahl der Kulturhauptstadtangebote die latente rechte Szene nur überdecke.
Gleichwohl erfreut sich die progressive Szene einer spürbar höheren Resonanz. Zum Stadtrundgang »Das rote Chemnitz« drängten 120 Interessenten. Unmittelbar hinter dem Marx-Monument hat im Haus der früheren SED-Bezirksleitung ein »Open Space« geöffnet, daneben richtete die Landeszentrale für politische Bildung ein Projektbüro ein.
Die Kunstsinnigen wussten zu unterscheiden zwischen gelungenen künstlerischen Höhepunkten und inszenierten PR-Events. Selbstverständlich drängte alles in die Edvard-Munch-Ausstellung der Städtischen Kunstsammlungen, ins Museum Gunzenhauser oder ins Schmidt-Rottluff-Haus. Noch bis zum Februar kann man im Schloßbergmuseum »Die neue Stadt« der architektonischen Ostmoderne studieren oder am Theaterplatz den Spuren der legendären Künstlergruppe Clara Mosch folgen.
Neben der Bildenden Kunst und der Industriekultur entwickelte auch das städtische Fünfspartentheater besonderen Ehrgeiz, und das nicht nur, weil Intendant Christoph Dittrich als Vater der Kulturhauptstadtidee gilt. Die Auftragsoper »Rummelplatz« nach dem Romanfragment von Werner Bräunig über die turbulenten Anfangsjahre des Uranerzbergbaus der Region überstieg alle Erwartungen. Das Theater muss wegen der enormen Nachfrage ständig Zusatzvorstellungen ansetzen. Weniger getragen hat das Kooperationsprojekt mit weiteren drei Kulturraumbühnen »Inside Outside Europe«.
Von der geplanten teuren Großaktion mit 4000 zu pflanzenden Apfelbäumen aber blieb im Oktober nur ein Apfelfest mit 600. In der gesamten Region sollen es immerhin 1600 Pflanzungen geworden sein. Auch die an sich originelle Idee, etwa 3000 Privatgaragen aus DDR-Zeiten als Kunstorte zu öffnen, fiel einige Nummern kleiner aus. Nur einige bunte Garagentore erinnern an die originelle Absicht.
Die Frage nach der Anschlussfähigkeit in Zukunft stellt ein auf zehn Jahre angelegter »Legacy«-Plan, der noch in den Anfängen steckt. Krisenhaushalte von Bund, Land und Kommune stimmen nicht optimistisch. Bleiben werden die sogenannten Interventionsflächen, also die umgestalteten Parks und öffentlichen Räume. Die Verträge für 65 befristet eingestellte Hauptamtliche enden am Silvestertag. Einige der vielen Freiwilligen könnten beim zeitgenössischen Festival »Theater der Welt« im kommenden Juni wieder eine Aufgabe finden. Die freie Szene und das Festival »Begehungen« mussten in diesem Jahr schon kürzen, die Kunstsammlungen öffnen künftig einen Wochentag weniger.
Der Bund unterstützt das Programm »Enter – Junge Kulturhauptstadt« noch bis 2029 mit 7,2 Millionen Euro. Oberbürgermeister Schulze sieht unverdrossen »die großartige Chance, der Kulturregion eine langfristige Perspektive zu geben«.