Die Ukraine steuert auf eine demografische Katastrophe zu[1]. Durch Krieg und Flucht ist die Bevölkerung des zweitgrößten Landes Europas auf das Niveau der 1920er Jahre zurückgefallen. Nach Angaben des ukrainischen Instituts für Demografie sank die Einwohnerzahl von 42 Millionen zu Kriegsbeginn auf 36 Millionen. Einbezogen sind dabei auch die von Russland besetzten Gebiete. In den Teilen des Landes, die unter Kontrolle Kiews stehen, leben verschiedenen Angaben zufolge lediglich 28 bis 30 Millionen Menschen.
Jeder fünfte Einwohner der Ukraine hat das Land seit Kriegsbeginn verlassen. Die aktuelle Ausreisewelle der 18- bis 22-Jährigen ist dabei noch nicht berücksichtigt. Es dürften noch einmal Hunderttausende dazukommen. Fest steht auf jeden Fall: In jeder ukrainischen Region übersteigt die Sterbe- die Geburtenrate. Das hat unter anderem die Nachrichtenagentur Reuters zusammengerechnet.
In Kiew ist man vor allem bemüht, Kinder, die zu Kriegsbeginn in Russland waren oder nach der Invasion aus den besetzten Gebieten verschleppt wurden, wieder in die Ukraine zurückzuholen. Wie viele dieses Schicksal ereilt hat, ist schwer zu ermitteln. Es gibt Annahmen, die je nach Quelle von 20 000 bis zu 31 000 Kindern ausgehen. In Russland sollen sie umerzogen und dann in dortige Familien vermittelt werden[2], so der Vorwurf. Auch Russlands enger Verbündeter Belarus soll Teil des Umerziehungssystems sein[3]. Immer wieder bringt die Ukraine Resolutionen in die UN ein, die Russland zur Rückgabe der Kinder zwingen sollen, zuletzt am 3. Dezember.
Nicht immer trifft die Rückholung von Kindern aus dem Ausland auf Verständnis. Im Juni sorgte die erzwungene Heimholung von 52 Waisen- und Pflegekindern aus dem österreichischen Burgenland für Entsetzen. Auch weil unter den Betroffenen 17 Kinder mit Behinderungen waren. Während die ukrainische Seite argumentierte, Kinder bräuchten eine Familie, die sie nur in der Ukraine bekämen, wunderte man sich im Burgenland, warum man Kinder zurück in den Krieg schicke.
Zumal Zweifel angebracht sind, dass Waisenkinder in der Ukraine auch in jedem Fall in eine Familie vermittelt werden. Vor einem Jahr wurde bekannt, dass Kinder aus dem Gebiet Saporischschja viel länger als vorgesehen – teilweise bis zu zwei Jahren – in einem Waisenhaus untergebracht wurden, ohne dass ernsthafte Vermittlungsversuche stattfanden. Mehrere Kinder sollen dabei misshandelt worden sein.
Eine neue Recherche der Plattform Slidstwo.Info zeigt, wie unvorbereitet die ukrainischen Behörden auf die Versorgung von schutzbedürftigen Kindern waren. Zu Kriegsbeginn habe es in der Ukraine ungefähr 67 000 Waisen und Kinder ohne elterliche Fürsorge gegeben, davon etwa 3500 im Gebiet Dnipropetrowsk. Überfordert von den neuen Begebenheiten baten die Behörden den lokalen Geschäftsmann Ruslan Schostak um Hilfe, der im Rahmen des Projekts »Kindheit ohne Krieg« mehrere Tausend Kinder in die Türkei schickte. Olena Selenska, Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, habe sich in der Türkei persönlich für die Aufnahme der Kinder eingesetzt, schreibt Slidstwo.Info.
Doch statt sich in der Türkei vom Schrecken des Krieges erholen zu können, wurden die Kinder dazu gezwungen, für das Projekt »Krieg ohne Kindheit«[4] Werbung zu machen. Während sich die eigenen Lebensbedingungen verschlechterten, mussten die Kinder für Fundraising-Aufrufe herhalten. Außerdem mussten die Kinder für die Erzieher auftreten. Wer nicht singen oder tanzen wollte, wurde bestraft. All das ist in einem Bericht der zuständigen ukrainischen Behörden nachzulesen, der nach einem Vor-Ort-Besuch im März 2024 erstellt wurde und den Slidstwo.Info einsehen konnte.
Mit der Zeit sei die Behandlung durch Erzieher immer grausamer geworden, berichten die betroffenen Kinder. Schläge seien an der Tagesordnung gewesen. Die Zimmer der Kinder seien zu jeder Zeit zugänglich gewesen. So konnte es auch dazu kommen, dass zwei Minderjährige von Mitarbeitern ihres Hotels geschwängert wurden. Die Kinder brachten sie in der Ukraine zur Welt, »ohne Unterstützung ihrer ehemaligen Erzieher oder Mitarbeiter der ukrainischen Sozialdienste«, wie Slidstwo.Info schreibt.
Die Unterbringung in der Türkei wurde mehrere Monate nach dem Bericht der ukrainischen Behörden beendet. Die Verantwortlichen weisen jegliche Verantwortung von sich und beschuldigen den Staat, nicht selbst genügend für die Kinder unternommen zu haben.
Das eingeleitete Strafverfahren gegen die Betreuer wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt, eine Angeklagte wurde lediglich degradiert. Ruslan Schostak erhielt für die Verbringung der Kinder in die Türkei den ukrainischen Verdienstorden, unterzeichnet von Wolodymyr Selenskyj. Auf Anfrage ukrainischer Journalisten beteuert Schostak weiterhin, nicht für die Misshandlung der ukrainischen Kinder in der Türkei verantwortlich zu sein.