nd-aktuell.de / 06.12.2025 / Berlin

Berlin: Messer, Neonazi, Antifa – und eine einseitige Ermittlung?

Der Prozess gegen zwei Antifas wirft bereits vor Beginn am Montag Fragen auf

John Malamatinas
Demonstration des Dritten Wegs Anfang 2025 in Hellersdorf
Demonstration des Dritten Wegs Anfang 2025 in Hellersdorf

Am 18. April 2024 eskalierte in der Wichertstraße im Berliner Bezirk Pankow[1] eine Auseinandersetzung zwischen einem bekannten Neonazi[2] der Partei Der Dritte Weg und Antifaschisten. Bei der brutalen Messerstecherei wurden drei Personen verletzt. Der Vorfall beschäftigt nun das Gericht. Schon vorab stehen Fragen zum tatsächlichen Ablauf des Abends, zur möglichen Voreingenommenheit der Ermittlungsbehörden und zu einer vorverurteilenden Berichterstattung diverser Medien [3]im Raum.

Im Prozess, der am Montag am Amtsgericht Tiergarten beginnt, sitzen zwei Antifaschisten auf der Anklagebank. Ihnen wird gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung zulasten des Neonazi-Kaders Leander S. vorgeworfen. S. ist Mitglied der extrem rechten Kleinstpartei Der Dritte Weg

In ihrer Erstmeldung vom 19. April 2024 schrieb die Polizei von einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen und einem Mann im Flur eines Mehrfamilienhauses, die sich auf einen nahegelegenen Spielplatz verlagerte. Die Einsatzkräfte fanden nach der Alarmierung durch Anwohnende den verletzten Neonazi auf dem Spielplatz sowie zwei weitere Schwerverletzte an einer Brücke. Alle drei wurden ins Krankenhaus gebracht und operiert. Bereits am 19. April schrieben Berliner Medien von einem politischen Hintergrund und von einem Angriff von Antifaschisten auf den 23-jährigen Neonazi. Die »B.Z.« titelte am 20. April: »Griff die Hammerbande einen Neonazi in Berlin an?« Sie rückte den Fall in den Kontext der als kriminelle Vereinigung verfolgten »Antifa Ost«. Es entstand das Bild einer neuen Episode linksextremer Gewalt.

Die Stichverletzungen der beiden Antifaschisten befanden sich in Herznähe sowie in der Nähe der Oberschenkelarterie, die Verletzung des Neonazis am linken Unterschenkel. Laut Medienberichten soll es noch einen weiteren Beteiligten gegeben haben. Am Tatort wurde ein Messer gefunden. Die Anklage richtet sich nun ausschließlich gegen die beiden Antifaschisten und schließt sich weitgehend der medialen Darstellung von damals an. Laut einer »Taz«-Recherche vom Oktober könnte sich die Situation jedoch anders zugetragen haben. Die Journalisten sprachen mit Zeug*innen und versuchten, den Ablauf zu rekonstruieren. Demnach sei es möglich, »dass der Neonazi das Messer geführt und zugestochen haben könnte«.

Der Verteidiger Lukas Theune erklärte »nd«, dass die Polizei in der ersten Strafanzeige noch von »Körperverletzung wechselseitig« ausgegangen sei. »Es werden zwei Akten angelegt. Aber im Anschluss wird nur noch gegen unsere Mandanten ermittelt, obwohl schon durch ein vor Ort gefertigtes Video ersichtlich ist, dass es Herr S. ist, der unsere Mandanten über den Spielplatz verfolgt und sie dort angreifen will.« Laut Theune habe S. das Messer bei sich gehabt und dieses auch eingesetzt.

»Es werden zwei Akten angelegt. Aber im Anschluss wird nur noch gegen unsere Mandanten ermittelt.«

Lukas Theune Verteidiger der Angeklagten

Das Messer soll keine verwertbaren Fingerabdrücke aufweisen. Der Neonazi habe auf die Frage, wem das Messer gehöre, nicht geantwortet. Die Wohnungen der Antifaschisten wurden durchsucht – die des Neonazis nicht. Die schweren Verletzungen der Antifaschisten erwähnt die Anklage laut »Taz«-Informationen nicht. Die Staatsanwaltschaft geht von einem Angriff der Antifaschisten aus. Der Neonazi soll in Notwehr gehandelt haben und straffrei davonkommen. »Dass Herr S. im Ermittlungsverfahren nie als Zeuge vernommen worden ist, das ist schon sehr besonders«, kommentiert Theune die Anklage. Ansonsten warte er die Hauptverhandlung und die Beweisaufnahme ab.

Eine kürzlich erschienene Erklärung auf der Internetseite des Dritten Wegs spricht mit Bezug auf die »Taz«-Recherche von »linksextremen Krokodilstränen vor Prozess gegen Gewalttäter«. Demnach soll S. auf dem Rückweg vom Sporttraining gewesen sein. Er habe in Notwehr gehandelt und sich gegen eine »bewaffnete Übermacht« verteidigt und zwei der Angreifer verletzt. Der Text liest sich wie eine offene Huldigung der Tat.

Der Neonazi ist kein Unbekannter. Bis 2022 war er aktiv in der Jugendorganisation der NPD (mittlerweile »Die Heimat«). Laut dem antifaschistischen Rechercheportal »Aus dem Weg« nahm er 2021 an einem Kampfsporttraining in Weißensee teil, an dem Neonazis der Jungen Nationalisten, der Identitären Bewegung und der Jungen Alternative beteiligt waren.

In der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Berliner Linke-Abgeordneten Niklas Schrader und Anne Helm vom November 2025 zu Aktivitäten des Dritten Wegs in Berlin erklärt die Justizverwaltung, dass das Personenpotenzial der Partei in Berlin von etwa 30 Personen im Jahr 2019 auf rund 80 im Jahr 2024 angewachsen sei. Kampfsporttrainings spielen demnach eine zentrale Rolle in der Organisation. Bilder der Trainings würden öffentlich verbreitet, teils mit internationaler Beteiligung. Diese Trainings würden ausdrücklich »der Vorbereitung auf Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern« dienen, die von den Mitgliedern gezielt gesucht würden. Pankow und Marzahn-Hellersdorf gelten zurzeit als »Aktionsschwerpunkte« des Dritten Wegs und seiner Unterorganisation, der Nationalrevolutionären Jugend (NRJ). Über die gezielte Propagierung, Messer und andere Stichwaffen zu verwenden, lägen keine Erkenntnisse vor, teilt die Justizverwaltung in ihrer Antwort mit. Bei den Kampfsporttrainings der Organisation seien jedoch auch Messer festgestellt worden.

Messerangriffe auf politische Gegner haben im Neonazi-Milieu eine lange Tradition. Am 21. November 1992 wurde der 27-jährige Antifaschist und Hausbesetzer Silvio Meier durch Messerstiche in Berlin Friedrichshain getötet. Am 28. März 2005 wurde der 31-jährige Thomas »Schmuddel« Schulz in Dortmund von einem Rechtsextremen erstochen. Am 12. Juni 2021 verletzte der ehemalige AfD-Gemeinderatskandidat Robert H. in Freiburg einen Mann mit einem Messer im Bauch. Der Mann hatte Zivilcourage gezeigt, nachdem H. Jugendliche mit Pfefferspray angegriffen hatte.

Aktuelle Beispiele stehen auch im Zusammenhang mit der Debatte um die sogenannte Hammerbande: Bei einem Angriff auf Eisenacher Neonazis zog der Betreiber einer Szenekneipe, Leon R., ein Messer. Er ist Teil der Neonazi-Kampfsportgruppe »Knockout 51«, die selbst wegen koordinierter Angriffe auf Linke vor Gericht stand. Zudem gilt der Einsatz von Messern laut mehreren Szenepublikationen als legitimes Kampfmittel, das mithilfe des Notwehrrechts strategisch ausgenutzt werden könne.

Vor dem Prozess am Montag betont Lukas Theune, dass selbstverständlich ein Notwehrrecht bestehe. »Aber spätestens, wenn die Personen nach dem Messerangriff fliehen, ist das Notwehrrecht beendet.« Alles, was danach geschehe, sei nicht mehr von Notwehr gedeckt. »Ab welchem Zeitpunkt dies genau gilt, auch dazu werden wir die Verhandlung abwarten müssen.« Zum Prozessauftakt organisieren antifaschistische Unterstützer*innen ab 8.30 Uhr eine Kundgebung vor dem Amtsgericht Tiergarten.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185048.neonazis-im-sport-berlin-pankow-dritter-weg-vom-platz-gestellt.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195801.extrem-rechte-neonazis-in-berlin-von-der-clique-zur-partei.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181651.extreme-rechte-antifaschismus-geht-jeden-an.html