Wann darf Friedrich Merz »Arschloch« genannt werden?

Mithilfe von Meldestellen sorgt das BKA für massenhafte Anzeigen wegen Beleidigung des Bundeskanzlers

Friedrich Merz nannte die deutsche Gesundheitsversorgung einen »Pull-Faktor« für Einwanderung und verbreitete dazu Fake News. Tadzio Müller schrieb daraufhin straflos: »Es geht Merz doch nicht um Fakten, sondern um symbolische Kommunikation: ›Seht her, auch ich bin ein schambefreites, rassistisches Arschloch.‹«
Friedrich Merz nannte die deutsche Gesundheitsversorgung einen »Pull-Faktor« für Einwanderung und verbreitete dazu Fake News. Tadzio Müller schrieb daraufhin straflos: »Es geht Merz doch nicht um Fakten, sondern um symbolische Kommunikation: ›Seht her, auch ich bin ein schambefreites, rassistisches Arschloch.‹«

Als Unions-Chef hatte Friedrich Merz über eine Rechtsanwaltskanzlei bereits Hunderte Strafanzeigen wegen Beleidigungen gestellt – etwa weil er als »Wichser«, »korrupter Faschist« oder »widerliches Arschloch« bezeichnet wurde. Seit seinem Amtsantritt als zehnter Bundeskanzler am 6. Mai 2025 setzt er diese Verfolgung fort, allerdings – angeblich – nicht mehr auf eigene Initiative: Das Bundeskanzleramt bestätigte auf Anfrage von »nd«, dass seitdem mehr als 140 »Kontaktaufnahmen« wegen strafrechtlich relevanter Äußerungen durch Polizei und Staatsanwaltschaften erfolgt seien (Stand: 24. November).

In keinem Fall habe Merz selbst Strafantrag gestellt – einer Verfolgung von Amts wegen wurde aber nicht widersprochen. Der Kanzler schließt sich damit einer Praxis an, wegen der in der vorigen Bundesregierung vor allem Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) von einer rechten Filterblase attackiert worden war.

Das Strafgesetzbuch kennt vor allem zwei Beleidigungstatbestände: Paragraf 185 schützt die persönliche Ehre und erfordert in der Regel einen Strafantrag der betroffenen Person. Paragraf 188 StGB hingegen schützt Politiker*innen und Amtsträger*innen und kann auch von Amts wegen verfolgt werden – deswegen gilt der Paragraf auch als modernes Verfolgungsinstrument von »Majestätsbeleidigung«. Die Strafe kann bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen betragen.

Meldungen über womöglich beleidigende Postings im Internet laufen bei der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) des Bundeskriminalamts (BKA) ein. Dort wurden nach Auskunft eines Sprechers in den ersten neun Monaten dieses Jahres 5155 gemeldete Fälle mit dem Straftatbestand des Paragraf 188 StGB kategorisiert – das ist rund ein Drittel aller bei der ZMI in diesem Zeitraum erfolgten Meldungseingänge. 4439 Verstöße gegen den Paragrafen 188 seien vom BKA in diesem Zeitraum in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) aufgenommen worden, berichtet die »Welt«, die ebenfalls zu den Zahlen recherchiert hat. Demzufolge sollen Anzeigen wegen Merz-Beleidigungen auch mithilfe der Firma »So Done« zustandegekommen sein – sie wurde von einer FDP-Politikerin gegründet und durchsucht Soziale Medien mit einer Software.

In mehreren Postings hatte Müller den Noch-Nicht-Bundeskanzler ein »Arschloch« genannt – immer jedoch mit kontextualisierenden Zusätzen wie »schamfrei« oder »rassistisch«.

Das BKA erhält seine Informationen zu Beleidigungen im Netz wiederum von anderen Meldestellen – privat oder staatlich. Am bekanntesten ist »Hessen gegen Hetze«, die für 92 Prozent der Paragraf-188-Meldungen an die ZMI verantwortlich ist. Diese Zahl nannte das BKA auf nd-Anfrage. Weitere Zulieferer waren Meldestellen wie »Respect!« oder Landesmedienanstalten.

Überraschende null Prozent verzeichnet das BKA für Meldungen zu Beleidigungen nach Paragraf 188 StGB von der Zentralstelle für Hasskriminalität im Netz (ZHIN). Sie ist mit dem Portal »www.hassanzeigen.de« bei der Staatsanwaltschaft Göttingen angesiedelt, die vergangenes Jahr nach einer US-Dokumentation über eine brachiale Verfolgung von Online-Beleidigungen zum Ziel eines rechten Intermobs geworden war. Kritisiert wurde (auch aus linker Perspektive zu Recht), dass die Justiz offenbar schon die Beschlagnahme von IT-Geräten als eine Strafe für die Betroffenen betrachtet – obwohl dies eigentlich nur eine Ermittlungsmaßnahme sein sollte.

Nach einer ersten Prüfung leitet das BKA die gemeldeten Inhalte an die zuständigen Landeskriminalämter weiter. Dann erhalten die Beschuldigten zunächst einen Anhörungsbogen, den sie ausfüllen oder ignorieren können. Im Falle weiterer Ermittlungen kann dann die Staatsanwaltschaft zusätzliche Maßnahmen anordnen, etwa eine Bestandsdatenabfrage bei den Internetplattformen oder Hausdurchsuchungen zur Beschlagnahme von digitalen Beweismitteln. Geben die Betroffenen Handys, Rechner oder Speichermedien freiwillig heraus, verzichten die Behörden mitunter auf eine Razzia.

Diese Routine zeigt sich auch in den Strafverfahren, die tatsächliche oder vermeintliche Beleidigungen von Friedrich Merz betreffen. So berichtet es dem »nd« der Anwalt Jannik Rienhoff, der rund 30 Fälle betreut, in denen der CDU-Politiker mit »Rassist«, »Nazi«, »Arschloch« oder anderen Ausdrücken betitelt wurde.

Über Akteneinsichten erhielt Rienhoff einen Auszug aus einer Excel-Tabelle mit zahllosen Beleidigungen, von denen ein Teil offenbar in Sammelanträgen verarbeitet wurde. Der Anwalt hält es aufgrund der bei Ziffer 4995 beginnenden Nummerierung des Aktenauszugs für möglich, dass tausende weitere Einträge Merz betreffen. Oft gingen diese Ermittlungen auf die Meldestelle »Hessen gegen Hetze« zurück – unabhängig von einem direkten Strafantrag durch Merz.

Im Fall einer im Internet als »Schwester Esther« auftretenden gelernten Krankenschwester führten die Ermittlungen sogar zu einer Hausdurchsuchung und einer Gefährderansprache: Die schwerbehinderte Internetnutzerin hatte Merz als »weißen, charakterlich verkorksten Idioten« und »Nazi« bezeichnet. Dafür musste sie eine Geldstrafe bezahlen.

In fast einem Dutzend anderen von Rienhoff vertretenen Fällen wurden Ermittlungen und Verfahren mit Hinweis auf eine geschützte Meinungsäußerung oder eine geringe Schuld eingestellt. Dies war etwa der Fall, wenn die vermeintliche Beleidigung einen zusätzlichen Kontext enthielt. So erging es dem Berliner Umweltaktivisten Tadzio Müller, der wegen Beleidigungen von Merz auf X oder Bluesky in mindestens acht Fällen angezeigt wurde – mal wegen Paragraf 185 StGB, mal 188.

In mehreren Postings hatte Müller den Noch-Nicht-Bundeskanzler in den Jahren 2023 und 2024 wegen dessen abschätzigen Äußerungen zu Migrant*innen ein »Arschloch« genannt – immer jedoch mit kontextualisierenden Zusätzen wie »schamfrei« oder »rassistisch«. In einem dieser Fälle schrieb Müller in Bezug auf Merz von einer »ultrarassistischen und grundgesetzwidrigen Forderung eines ›Aufnahmestopps‹« und nannte dies »Arschlochisierung«.

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Eines dieser Verfahren hat die Staatsanwaltschaft erst kürzlich eingestellt – weil die Ermittlungen nicht ausreichend Anlass zur Erhebung einer öffentlichen Klage gegeben hatten. Merz hatte wahrheitswidrig behauptet, Asylsuchende könnten in Deutschland aufwändige Zahnbehandlungen in Anspruch nehmen – und dies als »Pull-Faktoren« für Einwanderung nach Deutschland bezeichnet. Müller schrieb daraufhin: »Es geht Merz doch nicht um Fakten, sondern um symbolische Kommunikation: ›Seh her, auch ich bin ein schambefreites, rassistisches Arschloch.‹« Dieser Post ist offenbar von der Meinungsfreiheit gedeckt – vielleicht da Müller Merz die Worte rhetorisch in den Mund legt. So jedenfalls vermutet es der Aktivist in einem erklärenden Blogpost.

Wird das Schimpfwort indes mit verschärfenden Adjektiven belegt, kann es zur Strafe kommen. So ging es einer 46-jährigen Bürgergeldbezieherin aus Bochum, die Merz »dummes und empathieloses Arschloch« nannte und dafür 50 Tagessätze à 15 Euro kassierte.

Müllers Rechtsanwalt Rienhoff findet es deshalb falsch, wenn Merz Postings zur Anzeige bringen lässt, die einen klaren politischen Kontext haben – »da darf man viel, zu Recht«. »Bei einer Formalbeleidigung würde ich es verstehen, allerdings könnte Merz auch darüber stehen«, so Rienhoff. Den Paragrafen 188, der Ermittlungen auch ohne direkten Strafantrag des Bundeskanzlers ermöglicht, kritisiert der Anwalt auch grundsätzlich. Dadurch würden unnötig hohe Kosten und Aufwand für Betroffene entstehen.

Das bestätigt der von Rienhoff vertretene Tadzio Müller, der in den Ermittlungen das Muster sogenannter Slapp-Klagen (Strategic Lawsuit Against Public Participation) sieht: »Machtvolle Akteure« setzten mit zahlreichen, häufig offensichtlich unbegründeten Anzeigen »nicht so ressourcenstarke« Kritiker*innen unter Druck, erzeugten hohen anwaltlichen Aufwand und finanzielle Belastungen und schränkten so deren Teilnahme am öffentlichen Diskurs ein, erklärt der Aktivist »nd«. »Das ist besonders traurig, weil es ja angeblich gegen Hass im Netz gehen soll, diese Verfahren aber nun verwendet werden, um öffentliche Diskussionsräume einzuschränken – und somit dem Autoritarismus in der Gesellschaft Vorschub leisten«, sagt Müller.

Weitere Informationen zu den Anzeigen wegen der Merz-Beleidigungen will das Kanzleramt nicht veröffentlichen. Der »Tagesspiegel« klagt deshalb beim Berliner Verwaltungsgericht auf Herausgabe der Informationen zu den »Kontaktaufnahmen von Strafverfolgungsbehörden«. Der Merz-Stab lehnt die Auskunft mit der Begründung ab, die Anfrage sei ein »unzulässiger Ausforschungsantrag«, der die Verfahrenshoheit der Staatsanwaltschaften beeinträchtige. Eine Entscheidung des Gerichts steht noch aus.

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