Die letzten Mohikaner kirchlicher Jugendarbeit

Im Lichtenrader Jugendkeller in Berlin bekommt jeder seine Chance

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 7 Min.
Im Jugendkeller Lichtenrade betreiben Fritz Mille und Tonio Förster christliche Jugendarbeit – nach dem Vorbild Familie. Doch die Kirchen ziehen sich immer mehr auf ihre Kernklientel zurück und geben allgemein wohlfahrtspolitische Aufgaben auf, wodurch auch der Club gefährdet ist.
In der Einrichtung gibt es regelmäßig Mittagessen, das Mitarbeiter Fritz Mille selber kocht - natürlich nur mit besten Zutaten aus kontrolliert biologischem Anbau.
In der Einrichtung gibt es regelmäßig Mittagessen, das Mitarbeiter Fritz Mille selber kocht - natürlich nur mit besten Zutaten aus kontrolliert biologischem Anbau.

Ein Apfelbäumchen haben sie in diesem Sommer noch gepflanzt: die Jugendlichen vom Lichtenrader Jugendkeller. Ein Zeichen der Hoffnung sollte es sein, ganz nach dem Wort von Martin Luther, der gesagt haben soll: »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, dann würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.« Sie wollen die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn die Zukunft ihres Jugendkellers mehr als bedroht ist. Auf den ersten Blick scheint er eine normale Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit zu sein. Mittagessen wird dort angeboten, Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote. Auf den zweiten Blick ist er etwas Besonderes. Seine Mitarbeiter Fritz Mille und Tonio Förster wollen die Defizite der Plattenhaussiedlung im Westberliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg, die rundherum liegt, ausgleichen.

Handeln nach dem Vorbild Familie
Es sind die üblichen Verhältnisse, die den Mangel bewirken: Arbeitslosigkeit, geringer Bildungsstand und wenig Perspektiven. Ein Mangel, den die Eltern an die Kinder weitergeben. »Es sind Kinder, die unsere Gesellschaft verstößt. Am Anfang ihrer Schulzeit wird eine Prognose gestellt. Die heißt: Kinder, die aus bestimmten Milieus stammen, werden diesen Weg gehen. Und damit sind sie aufgegeben«, so Mille. Verstoßen eben.

Gegen dieses Verdikt arbeiten sie im Keller an. Nicht immer, aber doch oft erfolgreich. Ihr Konzept ist einfach. Sie orientieren sich an dem, was eine gute Familie ausmacht. »Eine Familie handelt eben nicht nach ökonomischen Prinzipien. Wenn Eltern ein Kind haben, das schwächer ist als die anderen, dann kümmern sie sich darum besonders.« Familienleben in all seinen Facetten ist Vorbild für den Jugendkeller, erklärt Fritz Mille: »Ich habe mich eigentlich nur daran erinnert, wie es bei uns zu Hause war, als ich Kind war. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, dann stand meine Mutter in der Küche und bereitete das Mittagessen zu.« So wie Mille heute im Jugendkeller.

Zum Essen gibt es nur Gesundes wie Fleisch vom Biometzger. Die Kinder und Jugendlichen an Obst und Gemüse zu gewöhnen, dazu gehörte Geduld. Viele von ihnen wurden von den Eltern mit 1,50 Euro in die Schule geschickt. »Das soll dann reichen für den Tag, im besten Fall geben sie es für Cola, Chips und Schokoriegel aus, im schlimmsten für Drogen.« Aber Fritz Mille war hartnäckig. Selbst frischen Fisch hat er zum Mittagessen eingeführt.

Einige der Jugendlichen haben sich sogar fürs Angeln begeistert. Wenn auch nicht mit viel Erfolg, wie sie in der Zeitschrift des Jugendkellers schreiben – auch dies ein ambitioniertes Projekt. Einmal im Jahr erscheint die Zeitung. Und da beschreiben sie dann, was sie erleben mit dem Fritz. Wie sie zwar keine Fische fangen konnten, aber dafür Pilze fanden. Und wie begeistert der Fritz war und Pilzsteaks bereitete. Alltag im Jugendkeller: Fritz Mille kocht und die Jugendlichen helfen, sie müssen es aber nicht, denn Mille erinnert sich, wie müde er selbst oft nach der Schule war. Aber dann essen alle gemeinsam an einem großen Tisch, genau wie in einer richtigen Familie. Auf die Hausaufgaben legt er dafür besonderen Wert. Sie werden nicht einfach beaufsichtigt, sondern Tonio Förster und Fritz Mille lernen intensiv mit den Besuchern des Kellers, manchmal einzeln, manchmal in kleinen Gruppen, ganz wie es nötig ist.

Fußball als Mittel zum Erfolg
Mark ist so in den Jugendkeller gekommen. Zuerst nur wegen des Fußballs. Dann kam er immer regelmäßiger. Nur Hausaufgaben wollte er nicht gerne machen: »Ich bin dann immer abgehauen. Wenn der Fritz mich gesucht hat, war ich nicht mehr da. Am nächsten Tag, bin ich dann wiedergekommen und habe mich rausgeredet. So ging das immer weiter.« Bis er merkte, so geht es eben nicht weiter.

Heute ist er 25. Es hat lange gedauert, aber jetzt macht er eine Ausbildung zum Erzieher. Und besucht immer noch den Jugendkeller. Einerseits, weil er dort Fußball spielt. Inzwischen hat es der Jugendkeller in die kirchliche Oberliga geschafft. Andererseits, weil er bei den Arbeiten, die er in der Schule schreiben muss, immer noch auf die Hilfe von Fritz und Tonio setzt. »In einer Familie setzt man die Kinder schließlich auch nicht mit 18 vor die Tür und sagt: Jetzt bist du erwachsen. Man hält zusammen und hilft, so lange es nötig ist.« Dieses Prinzip wendet Fritz Mille auch auf den Jugendkeller an. Egal wie lang. Einige der Jugendlichen haben es geschafft. Aber die Betreuer sehen es auch als Erfolg an, wenn ihre Kinder überhaupt wieder zur Schule gehen, wenn aus der Fünf in Englisch eine Vier wird. Dass es für viele trotzdem nicht reicht, darüber machen sie sich keine Illusionen. Freizeit und Arbeit, beides soll ausgewogen sein.

Der Jugendkeller ist eher schlicht ausgestattet: Tischtennis, Billardtisch, viele Spiele und Bücher. Computer und Fernsehen werden nur zum Arbeiten benutzt. Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, sich selbst zu beschäftigen, kreativ zu werden statt nur zu konsumieren. Es gibt eine Fahrradwerkstatt, und – ganz wichtig – die besagte Fußballmannschaft. Sie ist Anziehungspunkt, sie ermöglichte vielen Jugendlichen wie Mark die erste Kontaktaufnahme zum Keller. Sie bedeutet Kontinuität. Viele, die heute in der kirchlichen Oberliga spielen, sind schon seit zehn Jahren dabei. Und betreuen die Kleinen, die jetzt nachkommen. Nicht nur Fußball, auch die Konfliktfähigkeit wird trainiert. Die Mannschaft war erfolgsverwöhnt, aber jetzt in der Oberliga tut sie sich schwer. Den Klassenerhalt haben gerade mal geschafft. Das hat zu vielen Auseinandersetzungen unter den Spielern geführt. Jeder wollte einen anderen Weg aus der Krise. »Da hieß es, sich zusammensetzen mit Tonio und reden, bis wir eine Lösung gefunden haben«, erzählt Mark.

Ein Ort für 60 Jugendliche
Jedes Jahr fährt Fritz Mille mit einem Teil der Jugendlichen nach Polen. Auch Gymnasiasten aus Karlshorst nehmen an diesen Fahrten teil. Er will, dass sich beide Gruppen, die sich sonst eher feindlich erleben, kennen lernen und Vorurteile abbauen. Sie sollen erkennen: »Die einen, dass Hauptschüler nicht nur eine Bedrohung darstellen, und die anderen, dass Gymnasiasten nicht immer arrogant und überlegen sind.« Mark war letztes Jahr mit dabei. Auch er hatte Vorurteile gegenüber den Gymnasiasten, die immer so hochgestochen daherreden. Er meinte, da nicht mithalten zu können. Aber es stellte sich heraus: Das können richtig gute Kumpels sein. Und Mark hat auch gelernt, dass er sich nicht zu verstecken braucht. In breitem berlinerisch, aber durchaus eloquent, kann er seine Sache vertreten. Ein Selbstbewusstsein, das zugleich pädagogisches Credo des Jugendkellers ist: Die Rechte des Kindes stehen über allem. Ein Kind zu nehmen, wie es ist, und nicht, wie es sich die Erwachsenen oder die Gesellschaft wünschen, das lebt der Jugendkeller gegen den Mainstream, ob in Kirche oder Gesellschaft.

Rund 60 Jugendliche und Kinder kommen regelmäßig in den Jugendkeller. Das ist viel, bedenkt man, dass im bezirklichen Jugendclub nachmittags nur ein paar junge Männer an den Computern spielen. Und das, obwohl der Jugendkeller wesentlich bescheidener ausgestattet ist. Ursprünglich war er eine Einrichtung der evangelischen Kirche. Heute finanziert die Gemeinde die Stelle von Fritz Mille und bezuschusst den Mittagstisch und eine zweite Stelle.

Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat 10 000 Euro Zuschuss gestrichen. Mit einem Förderverein schafft Mille es bisher, die notwendigen Mittel aufzubringen. In anderthalb Jahren wird er in Rente gehen. Was dann geschieht, ist ungewiss. In den siebziger Jahren hat er mit der kirchlichen Jugendarbeit begonnen. Damals gab es einen Aufbruch der Gemeinden, sich auch um die zu kümmern, die nicht direkt in ihren Aufgabenbereich als Kirche gehörten. »Was du dem Geringsten getan hast, das hast du mir getan«, sagt er. »Das ist mein kirchliches Motiv gewesen. Und das halte ich hier noch aufrecht, aber ich habe den Eindruck, ich bin hier einer der letzten Mohikaner.«

Angesichts knapper Kassen schrumpfe sich die Kirche aus diesen Aufgaben zurück. Sie bediene ihre Stammklientel: diejenigen, die den Gottesdienst besuchen, das evangelische Bürgertum. Früher hat sich die evangelische Kirche auch für die Arbeiterschaft engagiert. Heute besteht die Gefahr, dass sie sich auf wenige Vorzeigeprojekte konzentriert. Bei Projekten wie dem Jugendkeller wird dann gespart. Aber immerhin: Die Stelle von Tonio Förster ist für ein weiteres Jahr finanziert. Der Keller und die Besucher haben sich im Prekariat eingerichtet. Und deshalb haben sie das Apfelbäumchen gepflanzt, in der Nachfolge von Martin Luther. Sogar ein Lied haben sie darauf gedichtet. Mit dem Refrain: »Und dann werden wir ein Apfelbäumchen pflanzen, denn die Welt wird untergehen, und im Jugendkeller wolln wir uns verschanzen und das Apfelbäumchen wachsen sehn.« Fünf Früchte trug es schon im ersten Jahr.

Keine neue angesagte Musikgruppe, sondern die Kids des Jugendkellers Lichtenrade.
Keine neue angesagte Musikgruppe, sondern die Kids des Jugendkellers Lichtenrade.
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