Unsichere Zukunft der Selbstverwaltung

Bei der Annäherung zwischen Damaskus und den Kurden gibt es keinerlei Fortschritte

  • Jakob Helfrich
  • Lesedauer: 4 Min.
Weil Baschar Al-Assad sich rechtzeitig absetzen konnte, ließen seine Gegner ihre Wut an Bildern des Langzeitpräsidenten aus.
Weil Baschar Al-Assad sich rechtzeitig absetzen konnte, ließen seine Gegner ihre Wut an Bildern des Langzeitpräsidenten aus.

Auch ein Jahr nach dem Sturz des langjährigen Diktators Baschar Al-Assad am 8. Dezember 2024 ist die Frage nach einer langfristigen Lösung für die Strukturierung des Landes weiter ungelöst. Ob und wie sie letztendlich gelöst werden wird, hängt derweil maßgeblich von einer Einigung zwischen der Übergangsregierung in Damaskus und der Selbstverwaltung im Nordosten Syriens ab.

Im März hatten Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa und der Oberbefehlshaber der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) den militärischen Einheiten der Selbstverwaltung Mazlum Abdi ein Abkommen unterzeichnet, das eine Integration der Selbstverwaltung in einen neuen syrischen Staat zum Ziel hatte. Doch neun Monate später und etwa drei Wochen vor Ablauf der geplanten Deadline für eine Einigung auf einen Integrationsplan ist wenig klarer, als es im März war.

Gespräche über Integrationsplan stocken

Nach Darstellung von Aldal Khalil, Mitglied des Exekutivrats der Partei der Demokratischen Union (PYD), die die Selbstverwaltung führt, sind die Gespräche seit Oktober und dem Treffen zwischen Al-Scharaa und US-Präsident Donald Trump praktisch zum Erliegen gekommen. Davor habe es erste konkrete Angebote gegeben, erklärte er gegenüber der Webseite Al-Monitor. Auch Abdi hatte im Oktober nach einem erneuten Treffen in Damaskus eine mündliche Übereinkunft präsentiert. Die SDF solle demnach in Form von eigenständigen Brigaden in eine neue syrische Armee integriert werden; auch die internen Sicherheitskräfte im Nordosten sollen demnach an ein reformiertes Innenministerium angebunden werden. Weniger klar war die Frage nach einer möglichen Dezentralisierung des Landes, wie sie die Selbstverwaltung immer wieder fordert

Laut Khalil sei bei dem Gespräch in Aussicht gestellt worden, dass eine De-facto-Dezentralisierung möglich sei, allerdings ohne sie so zu nennen. Die Integration der SDF als eigene Divisionen und Brigaden unter der Flagge der syrischen Armee sei demnach ein Vorbild, das auch für die zivilen Institutionen gelten könne. Seit dem Treffen in Washington habe es allerdings keine weiteren Gespräche gegeben. Damaskus habe seitdem nicht einmal neue Forderungen aufgestellt. Auch die Übereinkünfte vom Oktober seien lediglich mündlich geblieben.

Friedensprozess in Türkei bedeutend für Syrien

Und während der Zeitplan vom März sich dem Ende neigt, schauen in Syrien zeitgleich viele auch über die nördliche Grenze in die Türkei. Denn auch der dortige mögliche Friedensprozess zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) könnte für Syrien von großer Bedeutung werden. Ankara, das seit Jahren einen guten Draht zu den neuen syrischen Machthabern aufgebaut hat, betrachtet ohnehin die Selbstverwaltung und Organisationen wie die PYD oder SDF als Erweiterungen der PKK. Auch der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan hatte in verschiedenen Gesprächen über das letzte Jahr immer wieder Angriffe auf die kurdisch geführte Selbstverwaltung in Syrien als »Rote Linie« bezeichnet, die nicht überschritten werden dürfe.

Auch in den jüngsten Gesprächen, bei denen erstmals überhaupt Abgeordnete der türkischen Nationalversammlung Öcalan im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Imralı besuchten, war Syrien demnach neben einem Gesetz, das die Rückkehr von PKK-Mitgliedern in die Türkei regeln soll, zentraler Punkt der Gespräche. Zwar wurden die Protokolle der Sitzung direkt im Anschluss an die Gespräche unter Verschluss genommen, eine im Laufe der letzten Woche veröffentlichte Zusammenfassung enthält aber Passagen über die Situation in Syrien. Die pro-kurdische linke DEM-Partei kritisierte die Zusammenfassung als unzureichend. Man müsse die gesamten Protokolle veröffentlichen, um den Kontext zu verstehen.

Lage bleibt weiter instabil

Klar ist allerdings dennoch, dass die Prozesse in beiden Ländern parallel zueinander verlaufen. Laut der Zusammenfassung weigere sich Öcalan demnach, einen weiteren öffentlichen Aufruf an die kurdischen Kräfte und die Selbstverwaltung in Syrien zu richten, ohne dass in der Türkei konkrete Schritte im Friedensprozess unternommen würden.

Ob vor dem Jahresende und damit dem Ablauf der Frist, die sich die Selbstverwaltung und Damaskus im März gesetzt hatten, eine Lösung zustande kommt, ist fraglich. Allerdings scheint auch keiner der Akteure willens, den Prozess komplett über Bord zu werfen. Die Kämpfe und Massaker in den Küstenregionen im März an der alawitischen Bevölkerung, wo zuletzt erneut Proteste ausbrachen, sowie im Süden Syriens in den drusischen Regionen zeigen, dass die Lage weiter fragil ist und alle Seiten etwas zu verlieren haben. Eine Eskalation zwischen Damaskus und SDF, den beiden größten militärischen Kräften in Syrien, könnte das gesamte Land in die Situation von vor dem 8. Dezember 2024 zurückwerfen.

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