Verschobene Kräfteverhältnisse

Indigo Drau und Sina Reisch über die Polizeigewalt bei der Gründung der AfD-Jugend

  • Indigo Drau und Sina Reisch
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Wasserwerfereinsatz gegen Antifa-Demonstranten nahe der Lahnbrücke in Gießen
Wasserwerfereinsatz gegen Antifa-Demonstranten nahe der Lahnbrücke in Gießen

200 Busse aus der ganzen Bundesrepublik bringen in den frühen Morgenstunden über 12 000 Aktivist*innen in eine Stadt. Sie haben ein Ziel: durch Sitzblockaden Neonazis den Weg zu versperren und so zu verhindern, dass diese sich versammeln. Als die Rechtsextremen anrücken, ist tatsächlich jeder Weg versperrt. Die wollen jetzt, dass die Polizei ihnen den Weg freiprügelt.

Der Einsatzleiter antwortet: Es sei »nicht sein Problem«, wie die Nazis anreisen. Die Route zu räumen sei nicht verhältnismäßig gewesen. Dabei hätten die überwältigende Anzahl der Gegendemonstranten und ihre breit gemischte Zusammensetzung eine Rolle gespielt.

Die Aussage ist nicht von Gießen 2025, sondern von Dresden 2010.

Am 13. Februar vor fünfzehn Jahren hatten dort 12 000 Protestierende des Bündnisses »Dresden Nazifrei« den größten Neonaziaufmarsch Europas verhindert. Jahr für Jahr hielten Neonazis in Dresden einen geschichtsrevisionistischen Trauermarsch ab, bei dem die deutsche Kriegsschuld geleugnet und die Opferzahl bei der Bombardierung durch die Alliierten 1945 hochstilisiert wurde.

Indigo Drau & Sina Reisch

Indigo Drau und Sina Reisch kommen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung. In ihrem Podcast "Geschichte der kommenden Welten" berichten sie zweimal im Monat über soziale Kämpfe und Menschen, die in ihnen aktiv waren.

In Dresden wurde 2010 also erfolgreich blockiert, und Polizei und Innenministerium entschieden sich politisch gegen eine Räumung. Vergangenes Wochenende in Gießen hingegen wurde zwar ebenfalls erfolgreich blockiert, aber in diesem Fall entschieden sich Polizei und Innenministerium, mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray Hunderte Protestierende binnen Minuten von der Straße zu prügeln. Während in Dresden auch der sächsische CDU-Ministerpräsident Markus Ulbig ein Jahr später die Entscheidung der Polizei unterstützte, indem er betonte, es sei unmöglich gewesen, die Blockaden zu räumen, weil hinter ihnen auch »Frauen und Kinder« gestanden hätten, erklärt Hessens CDU-Innenminister Poseck diese Woche, die Polizei habe mit ihrem brutalen Vorgehen »bürgerkriegsähnliche Zustände« verhindert.

Wie kommt es zu den völlig unterschiedlichen Reaktionen auf antifaschistischen Protest?

Was sich nicht grundlegend unterscheidet, ist die Zusammensetzung des Gegenprotests. Auch in Gießen protestierte mit »Widersetzen« ein breites Bündnis. Unter den Menschen, die von der Straße geprügelt wurden, befanden sich auch 2025 Kinder und alte Menschen.

Und auch der geschichtsrevisionistische Trauerzug und das Gründungstreffen der Generation Scheiße haben zumindest zum Teil die gleiche Besetzung: Björn Höcke war auf beiden anwesend. Die Nachwuchskader der extremen Rechten dürften 2010 noch zu jung gewesen sein, um auch am Bahnhof festzusitzen. Ideologisch trennte sie aber nicht viel von dem Neonaziaufmarsch 2010. Begeistert applaudierten sie in Gießen zu völkischen Remigrationsplänen.

2010 und 2025 unterscheidet grundlegend, dass die extreme Rechte mit der AfD über einen gut organisierten und mächtigen parlamentarischen Arm verfügt. Und das veränderte Kräfteverhältnis hat Auswirkungen auf den Diskurs, verschiebt die Grenzen des Sagbaren. Während beim Neonaziaufmarsch 2010 kein öffentlich-rechtliches Medium den Nazis viel Platz eingeräumt hätte, um zu berichten, was sie von den Gegenprotesten halten, können jetzt AfDler im Bundestag von »linksextremer Machtübernahme« in Gießen fabulieren und werden damit unkommentiert zitiert. So ist es gelungen, die Antifaschist*innen nicht als demokratische Mehrheit, sondern als radikale Minderheit darzustellen. Und die anderen Parteien, allen voran die CDU, stimmen in ein Narrativ über die Proteste mit ein, das von der Hufeisentheorie geprägt ist. Wobei man es schon als Erfolg von »Widersetzen« werten kann, dass sich Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), der sich eine potenzielle Zusammenarbeit mit der AfD sicher nicht verspielen will, überhaupt kritisch zur Gründung der neuen Jugendorganisation äußert.

Umso wichtiger, dass »Widersetzen« es sich zum Ziel gemacht hat, durch breiten und entschlossenen Protest klarzumachen, dass die AfD eine rechtspopulisitsche Partei mit faschistischem Kern ist. Und so auch die Grenzen des Sagbaren wieder zu verschieben. Ob massenhafter ziviler Ungehorsam unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ein geeignetes Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, muss sich in den nächsten Jahren herausstellen.

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