Der Korruptionsprozess im »Notizbuch-Fall« kann von der Öffentlichkeit in Argentinien live über einen Streamingkanal verfolgt werden. Was denken Sie, wenn Sie den Prozess auf dem Bildschirm verfolgen?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass der Prozess stattfindet. Dieser Fall umfasst fast zwölf Jahre Korruption, was eine lange Zeit mit vielen Ereignissen ist. Die Tatsache, dass jeder Argentinier ihn verfolgen kann, sprich die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise sehen und auch die Zeugenaussagen hören kann, ist ein Schritt in Richtung mehr Transparenz im argentinischen Justizsystem.
Sie haben bereits 2017 das Buch »Gegen die Korruption« veröffentlicht. Was war der Anlass dafür?
Ich habe viele Jahre über Korruptionsermittlungen, Geldwäsche und Bankbetrugsfälle gearbeitet, insbesondere über solche, die von Machthabern begangen wurden – seien es wirtschaftliche, politische, juristische oder auch gewerkschaftliche Machthaber. Was mich besonders erschütterte, war, wie tief die Korruption verwurzelt ist.
Was ist das Besondere an der Korruption in Argentinien?
Kein Land kann behaupten, immun gegen Korruption zu sein. Korruption ist ein strukturelles Problem, das die Demokratie beeinträchtigt. Aber in Argentinien hat sich die Korruption durch die Straflosigkeit verschärft und so einen explosiven Cocktail für unser demokratisches System gebildet. In den 90er Jahren gab es einen einflussreichen Geschäftsmann, der sagte, er wolle die Macht, um sich Straflosigkeit zu gewährleisten.
Das war Alfredo Yabrán, der auch für die Ermordung des Fotoreporters José Luis Cabezas 1997 verantwortlich gemacht wird. Yabráns Credo war »Macht ist Straflosigkeit«. Sie haben zahlreiche Anzeigen wegen Korruption eingereicht. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Justizsystem gemacht?
Über viele Jahre hat die Justiz Straflosigkeit garantiert. Gerichtsverfahren wegen Korruption ziehen sich in Argentinien endlos hin. Auch das erzeugt ein Gefühl der Straflosigkeit. Im Durchschnitt dauern allein die Ermittlungen zwölf Jahre, bis ein Fall vor Gericht verhandelt wird. Das liegt auch daran, dass in der Regel niemand Quittungen für erhaltenes Schmiergeld ausstellt. Aber auch daran, dass es meist genau diejenigen sind, die auf die gerichtlichen Anfragen antworten sollen, gegen die ermittelt wird.
Auch nach einem Prozess ist ein Urteil nicht endgültig rechtskräftig.
Ja, beispielsweise bei dem Urteil gegen Cristina Kirchner wegen Korruption bei Straßenbauprojekten. Die Haftstrafe gegen die ehemalige Präsidentin ging durch alle Berufungsinstanzen, bis der Oberste Gerichtshof das Urteil letztlich als rechtskräftig bestätigte. Erst danach musste sie die Haft antreten.[1] Trotzdem war es ein wichtiges Signal an die Gesellschaft und die gesamte politische und juristische Führung: Korruption wird in Argentinien verfolgt und bestraft.
Warum werden dennoch immer Politiker in Ämter gewählt, die der Korruption verdächtigt werden?
»Roban, pero hacen – Sie klauen, aber sie machen auch etwas.« In den 90ern war dieser Satz weit verbreitet, besonders in der Zeit der Präsidentschaft von Carlos Menem (1989 – 1999, d. Red.). Für viele war das die Rechtfertigung für Korruption. Und für viele blieb sie das auch später noch. Einen Wendepunkt markiert das schwere Zugunglück im Jahr 2012 in einem Stadtbahnhof von Buenos Aires, bei dem 52 Menschen ums Leben kamen. Öffentliche Gelder, die für eine verbesserte Infrastruktur und Sicherheitseinrichtungen hätten verwendet werden sollen, landeten in den Taschen von Regierungsmitgliedern und Staatsangestellten. Damals wurde allen unmittelbar bewusst, dass Korruption auch tötet.
Der ultralibertäre Präsident Javier Milei ist auch angetreten, um gegen die Korruption vorzugehen. Nun hat es während seiner bisherigen Amtszeit bereits mehrere Korruptionsskandale gegeben, etwa den um eine Kryptowährung oder bei der Behörde, die für die Versorgung behinderter Menschen zuständig ist.[2] Glauben Sie, dass sich mit Milei tatsächlich etwas ändert?
Nein, Präsident Milei ist weder an Kontrolle noch an Transparenz interessiert. Deshalb sind die wenigen Kontrollorgane, die es gibt, heute funktionsunfähig. Nehmen wir beispielsweise das Amt des Generalrechnungsprüfers. Nach seinem Amtsantritt ernannte Milei mit Miguel Blanco einen hoch angesehenen Experten aus der Privatwirtschaft, der umfassende Prüfungen in allen Regierungsbereichen einleitete. Diese nutzte Milei ausschließlich, um die Misswirtschaft der Vorgängerregierung von Alberto Fernández anzuprangern. Im Juli hat Milei schließlich Blanco entlassen, seither ist der Posten vakant.