Die prominenteste Angeklagte im bislang größten Korruptionsprozess Argentiniens ist die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner (2007 – 2015). In Argentinien hat die mündliche Verhandlung im sogenannten Notizbuch-Fall begonnen. Seit Anfang November stehen 87 Angeklagte wegen Bestechung und Korruption vor einem Bundesgericht[1] in Buenos Aires.
Die Staatsanwaltschaft wirft Cristina Kirchner und ihrem 2010 verstorbenen Ehemann Néstor Kirchner vor, zwischen 2003 und 2015 ein System zur Beschaffung illegaler Gelder organisiert zu haben. Cristina Kirchner soll nach dem Tod von Néstor Kirchner die illegale Vereinigung geleitet haben.
»Ich habe Cristina alles erzählt: Dass es ein System zur Geldbeschaffung aus Straßenbauprojekten gibt, ich habe ihr den Mechanismus erklärt, der auch in anderen Bereichen des Ministeriums bekannt ist«, gestand José López, ehemaliger Staatssekretär im Planungsministerium, in seiner Aussage während der Ermittlungen. López, der ebenfalls angeklagt ist, bringt damit Cristina Kirchner direkt mit dem Bestechungssystem in Verbindung.
»Die Führer und Organisatoren dieser parastaatlichen Struktur entwickelten ein System zur Geldbeschaffung, das sich hauptsächlich auf die Vergabe öffentlicher Bauaufträge und/oder Dienstleistungen sowie damit verbundener Vorteile konzentrierte«, heißt es in der 678 Seiten umfassenden Anklageschrift.
Konkret geht es um die Vergabe öffentlicher Projekte an die Privatwirtschaft gegen Schmiergeldzahlungen an Dollar in Millionenhöhe. Das Besondere ist, dass neben der ehemaligen Präsidentin sowie 22 früheren Mandatsträgern und Staatsangestellten auch 65 Unternehmer und Geschäftsleute vor Gericht stehen.
Der Prozess verdankt seinen Namen acht Notizbüchern von Oscar Centeno, dem ehemaligen Fahrer von Roberto Baratta, der wiederum als Staatssekretär im Planungsministerium während der Kirchner-Präsidentschaften angestellt war. Der damalige Planungsminister Julio De Vido ist als mutmaßlicher Mitbegründer der illegalen Vereinigung ebenfalls angeklagt.
Centeno hatte über zehn Jahre akribisch nicht nur jede Fahrt wie in einem Fahrtenbuch üblich notiert, sondern zugleich auch Namen, Adressen und Summen der in Beuteln und Taschen voller Bargeld abgeholten Schmiergeldzahlungen dokumentiert. Als Bestimmungsorte der vermeintlichen Schmiergelder sind meist der Sitz des Kabinettschefs, die Präsidentenresidenz im Vorort Olivos oder die Wohnung der Kirchners in der Hauptstadt notiert. »Heute beginnt ein weiteres juristisches Schauspiel«, schrieb Cristina Kirchner auf der Plattform X. »Offenbar reicht es ihnen nicht, mich einzusperren und lebenslang von öffentlichen Ämtern auszusperren: Sie müssen die Justizoperette am Leben erhalten.« Die 72-Jährige verbüßt bereits eine sechsjährige Haftstrafe in einem anderen Korruptionsfall und steht seit Juni vergangenen Jahres unter Hausarrest[2].
Die Notizbücher wurden erstmals 2018 durch einen Bericht in der konservativen Zeitung »La Nación« öffentlich bekannt. Diego Cabot, ein bekannter Journalist, der seit Jahren Korruptionsfälle untersucht, beschreibt, wie er in den Besitz der Notizbücher gelangte: Ein Nachbar kam auf ihn zu und erzählte ihm von einer Kiste, die ihm ein Freund zur Aufbewahrung gegeben hatte. Sein Nachbar übergab ihm schließlich die Kiste.[3]
Darin befanden sich unter anderen die acht Notizbücher, deren Aufzeichnungen der Journalist gründlich überprüfte sowie kopierte. Nachdem Centeno jedoch jegliche Kooperation verweigert hatte, gab Cabot die Kiste mit den Notizbüchern zurück. Zugleich wandte er sich mit seinem Material an die Justiz, die schließlich mit den Ermittlungen begann, die zum aktuellen Gerichtsverfahren gegen mehr als 80 Angeklagte führten.
Derzeit sind drei virtuelle Verhandlungstage pro Woche für das Verfahren angesetzt. Während die beteiligten Anwälte und Angeklagten über Zoom zugeschaltet sind, ist die Verhandlung über den Streamingkanal der Justiz öffentlich zugänglich. Allein die Verlesung der Anklageschrift nahm mehrere Verhandlungstage in Anspruch. Nun sollen bis zu 630 Zeug*innen angehört werden. Das könnte bedeuten, dass sich der Prozess über einige Jahre hinziehen wird. Es wird über zusätzliche Verhandlungstage pro Woche diskutiert.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Bestechungsgelder in großem Umfang geflossen sind. Centeno hat nicht nur den Inhalt der Notizbücher und sich als Autor bestätigt. Im Laufe der Ermittlungen haben bereits 21 Angeklagte von dem sogenannten »Gesetz über reuige Zeugen« Gebrauch gemacht und mit ihren Aussagen zahlreiche Rückzahlungen bestätigt. Das Bundesgericht muss darüber urteilen, wer in welcher Form und in welchem Umfang dafür verantwortlich ist. Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten lange Haftstrafen.