Der Andrang am Amtsgericht Tiergarten ist groß: Vor dem rechten Eingang stehen etwa 200 Antifaschist*innen. Am linken Eingang stehen rund 20 augenscheinlich erkennbare Neonazis. An der Pforte wird verkündet, dass es im Gerichtssaal nur 30 Plätze gibt – also 15 für jede Seite. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite beginnt eine Kundgebung. Zu sehen sind Transparente mit den Aufschriften »Gemeinsam gegen den Faschismus« und »Für immer Antifa[1]«.
Am Montagmorgen begann der Strafprozess gegen zwei Antifaschisten. Der Vorwurf lautet: gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung des Neonazis Leander S. Am 18. April 2024 kam es in der Wichertstraße im Berliner Bezirk Pankow zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einem bekannten Neonazi der Kleinstpartei Der Dritte Weg[2] und Antifaschisten, bei der drei Menschen durch Messerstiche verletzt wurden. Die ersten Polizeimeldungen und Medienberichte stellten schnell einen politischen Zusammenhang her und sprachen von einem Angriff aus der linken Szene. Im Vorfeld des Prozesses kamen Fragen nach dem tatsächlichen Ablauf und einer möglichen Vorverurteilung auf.
Kurz vor Prozessbeginn kommt es zu einer tumultartigen Szene außerhalb des Gebäudes. Neonazis aus dem Unterstützerumfeld des vermeintlichen Opfers S. versuchen an einem Spielplatz vor dem Gerichtseingang an der Wilsnacker Straße anreisende Antifaschist*innen anzugreifen. Die zwei Antifaschistinnen können unverletzt flüchten. Laut der Gruppe »Prenzlauer Berg gegen Nazis« beweist der Angriffsversuch die Gewaltbereitschaft des Dritten Wegs.
Vor dem Verlesen der Anklage legt die Verteidigerin Martina Arndt einen Einstellungsantrag vor, weil der »Akteninhalt nicht der Anklage entspricht«. Unter anderem führt sie an, dass Leander S. nicht vernommen worden sei und die Verletzungen der Angeklagten nicht erwähnt seien. Im Fall des Messers seien erst auf Anfrage der Verteidigung Fingerabdrücke untersucht worden. Die Anklage sei somit eine »Täuschung«. Der Antrag wird vom Vorsitzenden Richter abgelehnt.
Die anschließend verlesene Anklage beinhaltet in der Tat nicht die Verletzungen der Angeklagten. Dargelegt wird der Vorwurf der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung.
Im Anschluss folgt die Prozesserklärung der Angeklagten. Sie entschieden sich, sich zur Tat zu äußern. Zuvor erklären sie, warum sie gegen Neonazis aktiv geworden seien: Freund*innen von ihnen seien bereits mehrfach Opfer von Angriffen durch Neonazis geworden, etwa im Rahmen eines CSD oder bei Angriffen auf einen Jugendclub in Pankow. Sie hätten sich aufgrund dieser Bedrohungslage entschlossen, etwas »dagegen zu tun«. Sie hätten den Neonazi aufgesucht, um ihn zu bedrohen und einzuschüchtern.
Einer der Angeklagten schildert den Tathergang: Sie seien zu dritt gewesen, hätten zur Sicherheit Pfefferspray dabei gehabt und seien vermummt gewesen. Ein Messer hätten sie nicht mitgeführt. Ein Hammer sei nie zum Einsatz gekommen. Insgesamt hätten sie die Situation unterschätzt. S. habe sofort brutal mit Kampfgeschrei agiert und sei mit einem Messer auf sie losgegangen. Er habe mehrfach zugestochen und versucht, einen der Antifaschisten festzuhalten. Beide Angeklagten erklärten, sie seien seit der Auseinandersetzung in psychiatrischer Behandlung. Einer der Angeklagten werde am Zeigefinger bleibende Schäden davontragen.
Dann erscheint das vermeintliche Opfer und Zeuge Leander S. Er bestätigt, Mitglied der Partei Dritter Weg zu sein. Er sei vom »Sport« zurückgekommen. Dieses Training sowie weitere Trainings hätten beim TSV Preußen 1997 stattgefunden. Vor Gericht sagt er, er habe während der Auseinandersetzung zu einem Messer gegriffen, das sich in seiner rechten Hosentasche befunden habe, und habe damit mehrfach auf eine Person eingestochen, die ihn angegriffen habe. Er sprach von vier bis sechs Angreifern.
»Wir fordern, Nazis ihre Räume zu nehmen, da bei den Trainings auf öffentlichen Plätzen solche Ereignisse wie im April letzten Jahres vorbereitet werden.«
Gruppe Prenzlauer Berg gegen Neonazis
Im Zuge der Befragung durch den Verteidiger Lukas Theune verwickelt sich S. zunehmend in Widersprüche: Theune weist ihn auf eine Erklärung hin, die vor wenigen Tagen auf der Webseite des Dritten Wegs erschienen war und in der von zwei Verletzten die Rede ist sowie davon, dass »der Leitsatz der Bewegung sei, nicht die andere Wange hinzuhalten, sondern zu kommen, um das Schwert zu bringen«. S. sagt, er kenne den Verfasser des Textes nicht, bekennt sich aber zu dem Leitsatz. Theune greift auch die Kampfsporttrainings des Dritten Wegs auf, die – wie aus einer Antwort der Justizverwaltung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht – keine einfachen Boxtrainings sein können. Bei einem dieser Trainings wurden Messer und Schreckschusswaffen sichergestellt.
Bei Redaktionsschluss lief der Prozess noch. Es wurden Videos gesichtet, die ein Zeuge während des Vorfalls angefertigt hatte; dieser Zeuge wurde ebenfalls vernommen. Im Saal saßen mehrere bekannte Kader der Kleinstpartei, darunter der Bundesvorsitzende Matthias Fischer. Laut einer Zeugenvernehmung des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2013 hatte Fischer sporadischen Kontakt zum Rechtsterroristen des NSU Uwe Mundlos. Trotz weiterer Indizien bestritt Fischer, vom NSU gewusst zu haben. 2014 siedelte er nach Brandenburg über, ohne sich jemals von der gewaltbereiten Szene zu distanzieren. Stattdessen spielte er eine maßgebliche Rolle beim Aufbau des Dritten Wegs. Der brandenburgische Verfassungsschutz[3] stuft ihn als zentrale Schlüsselfigur und einflussreichen Vernetzer der Neonazi-Szene ein.
Die Gruppe »Prenzlauer Berg gegen Neonazis«, die sich zur Unterstützung der Betroffenen zusammengeschlossen hat, fordert »klare Konsequenzen«, wie sie »nd« sagt. Die Gruppe verweist auf Forderungen antifaschistischer Gruppen aus Berlin, etwa »den Nazis ihre (Sport-)Räume in Berlin zu nehmen, da bei den Sporttrainings auf öffentlichen Sportplätzen solche Ereignisse wie im April letzten Jahres vorbereitet werden«. Laut der Gruppe sei S. nahezu bei jeder Aktion des Dritten Wegs und der Nationalrevolutionären Jugend (NRJ) in Berlin dabei. Erst im November »sei er bei Infoständen in Lichtenberg gesehen« worden.