nd-aktuell.de / 08.12.2025 / Kultur

Wer überwindet wen? Klaus Bellin zur DDR-Literatur

Der rastlose Schreiberkunder Klaus Bellin wird 90 und veröffentlicht mit »Was bleibet aber« ein neues Buch über widersprüchliche DDR-Literaten

Gunnar Decker
Der Ermutiger Brecht (l). und sein Minister Becher (M.), 1954 auf Besuch in Westberlin, auf Einladung des linken Arztes Dr. Wallner (r.)
Der Ermutiger Brecht (l). und sein Minister Becher (M.), 1954 auf Besuch in Westberlin, auf Einladung des linken Arztes Dr. Wallner (r.)

Man werde im Jenseits nicht nach der Anzahl der gelesenen Bücher befragt, notierte Hermann Hesse einmal nicht ohne Selbstironie. Nein, nach der Anzahl wohl nicht, nach der Auswahl der Lektüre schon eher. Denn die Bücher, mit denen wir uns umgeben, zeigen, in welcher Welt wir leben.

Klaus Bellin gehört zu denen, die das anachronistisch gewordene Wort »Geist« noch ganz selbstverständlich aussprechen. Aber was meint dies eigentlich? Eine Möglichkeit der Existenzerweiterung, ein Ausprobieren anderen Lebens von der ersten bis zur letzten Seite eines Buches.

Hier hat jemand in seinem langen Leben als Leser wie auch als Autor viele Leben ausprobiert. Das gibt Bellins Urteil über Bücher jene Lebensklugheit, die zum Zwiegespräch einlädt. Wie Bücher überhaupt ja geistige Gespräche über ferne Zeiten und entlegene Gegenden hinweg ermöglichen. Das Ferne kommt für Augenblicke ganz nah, ohne darum aufzuhören, uns fernzubleiben. In diesem – oft schmerzhaften – Widerspruch steckt das Abenteuer des Lesens.

Klaus Bellin, unablässig auf Lese-Expedition, lässt uns daran teilhaben – als Autor dieser Zeitung, zuvor bei der »Weltbühne« oder auch als Radioredakteur. Auch legte er Bücher vor, etwa über die Liebes- und Leidensgeschichte von Kurt und Mary Tucholsky oder das Weimar Harry Graf Kesslers, die immer neu dazu einladen, die Mysterien des Schöpferischen zu erkunden. Teils erscheinen diese tragisch, teils tragikkomisch. Denn der Alltag, den jeder erdulden muss, nüchtert jedes Pathos, in das Kunstanstrengung gern zu flüchten versucht, wieder aus.

Klaus Bellin gehört zu denen, die das anachronistisch gewordene Wort »Geist« noch ganz selbstverständlich aussprechen.
Klaus Bellin gehört zu denen, die das anachronistisch gewordene Wort »Geist« noch ganz selbstverständlich aussprechen.

Im vergangenen Jahr erschien von Bellin »Gegenwelten. Dichter zwischen Goethe und Fontane«[1]. Warum schreibt jemand überhaupt, wenn man davon dann doch nicht leben kann, oder wenn, dann nur kümmerlich? Weil er sein beschädigtes, unvollständiges Leben sonst nicht aushielte, so Bellin. Das verbindet Leser wie Schreiber: Sie versuchen etwas zu vervollständigen, das – wie sie wohl wissen – nicht zu vervollständigen ist. Gottfried Benn erklärte bündig, man solle innerhalb der »Ausdruckswelt« ruhig eine Teilfunktion erfüllen, aber diese ganz.

Damit ist der Essayist Klaus Bellin charakterisiert, der das Fragmentarische, Ausschnitthafte und im Textumfang Begrenzte wie wenige andere Autoren hierzulande zur Perfektion zu bringen vermag. Unablässige Arbeit am Wortwerk steckt darin, etwas, das zugleich Weltschöpfung im Kleinen bedeutet. Seine nicht nachlassende Neugier auf Buch gewordenes Leben, seine rastlosen Schreib-Erkundungen samt einer selten gewordenen Demut vor dem Wort – das macht Klaus Bellin aus. Ein Bundesgenosse in immer kleiner werdenden Kreisen? Ja, aber auch ein Utopist jener »fruchtbringenden Gesellschaften«, mit denen Aufklärung im 18. Jahrhundert einst gegen eine unaufgeklärte Mehrheitsgesellschaft anhob, in eigenen Worten die eigenen Angelegenheiten zu verhandeln.

Und das mit einem poetischen Furor, den uns Bellin wie wenige zu vermitteln versteht, auch dort, wo sich dieser im Abseits zu verlaufen scheint. Die Außenseiter und schon fast oder ganz Vergessenen haben in ihm einen Anwalt gefunden, der noch da für sie spricht, wo doch alles gegen sie zu sprechen scheint. So auch in seinem soeben im quartus-Verlag erschienenen Band mit Aufsätzen zur DDR-Literatur. Er trägt den Titel »Was bleibet aber – Schriftsteller in der DDR«. Natürlich klingt dies nach Hölderlins »Was bleibet aber, stiften die Dichter«, das Bellin als Vorspruch des Bandes wählt. Da ist die »dürftige Zeit« nicht fern.

Wer über Bücher in der DDR spricht, der ist zugleich beim Thema einer Gesellschaft, die eine Idee einlösen wollte und dann doch in Ideologie feststeckte. Das war jener Stoff, aus dem Literatur ebenso wie alle anderen Künste in der DDR heraus getrieben wurden, weil es immer um diesen Richtungsstreit zwischen feindlichen Brüdern ging: Idee oder Ideologie. Oder wie es bei Franz Fühmann[2], über den es einen schönen Text im Buch gibt, heißt: Dichtung oder Doktrin. Wer überwindet wen? Das wird zur Existenzfrage nicht nur des Autors, sondern einer Gesellschaft, die angetreten war, die Irrtümer ebenso wie die Irreführungen der Vergangenheit, die zu ungeheuren Verbrechen geführt hatten, in einer neuen Gesellschaft zu überwinden – und scheiterte.

Wie kein zweiter verkörperte Johannes R. Becher[3] diesen inneren Zwiespalt, an dem die DDR von Anfang an litt. Den es letztlich nicht gelang, produktiv zu machen, wie auch Klaus Bellin konstatiert, der mit Becher diesen Band, der eine höchst vitale DDR-Literaturgeschichte ist, eröffnet – 30 weitere Porträts und Betrachtungen folgen. Becher war zwischen Expressionismus, Drogensucht, Selbstmordversuchen und Funktionärsschicksal (als Minister entstehen Stalin-Oden wie massenhaft parteiamtliche Machwerke) eben immer auch Dichtung auf höchstem Niveau. Wie aber soll man einen Dichter erkennen, der sich selbst unter lauter Schutt begräbt? Er sei schon »zu Lebzeiten unkenntlich geworden«, befindet Bellin: »Mit geradezu manischer Besessenheit hat er seine Lebensgeschichte so lange retuschiert, bis alle Ecken und Kanten, die Brüche und Abgründe aus der Welt waren.« Diesen Gesichtsverlust teilte er mit den Repräsentanten des Staates DDR, die alle ihre Biografie von Widersprüchen bereinigten. Erst heute merkt man allmählich auf: Politbüro-Mitglied Hermann Axen hatte Auschwitz überlebt, Albert Norden war Rabbiner-Sohn und Honecker saß zehn Jahre als Widerständler unter den Nazis im Zuchthaus ... Verglichen mit Adenauer, Globke und Filbinger im Westen war das doch ein vielversprechender Anfang! Der aber nicht eingelöst wurde, vor allem, weil man sich von Stalins Schatten nie befreien konnte. Und so notiert Becher in den 50er Jahren in seinem »Poetischen Prinzip«, das zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wird, ganz und gar resigniert: »Die Angst befällt mich, dass ich ganz und gar irregehe ... Aber ich muss meine Ausgangsposition wiederfinden, wenn ich kein Heimatloser, kein für immer Verirrter bleiben soll.«

Klaus Bellin spürt dem inneren Schreibantrieb der hier vorgestellten Autoren nach. Arnold Zweig, dieser bedeutende Autor, der 1948 aus dem Exil in Palästina nach Ost-Berlin kam, hörte nicht auf, sich mit dem Judentum als Thema herumzuschlagen. Er konnte es weder zurücklassen noch darin leben. Zusammen mit Brecht war es Zweig, der der Formalismus-Verbotswelle der frühen 50er Jahre wie ein listenreicher Simplizissimus entgegentrat, eine Stimme der Vernunft unter lauter militanten Verfolgern. Ein Ermutiger, der hoffen ließ, dass auch hysterische Zeiten vorbeigehen – doch um welchen Preis? Vom großen Literaturwissenschaftler Hans Mayer lesen wir hier dessen Selbstbekenntnis: »In Leipzig wurde ich endlich zu mir selbst erweckt.« 1963 verlässt er verbittert die DDR. Wie konnte das geschehen?

Diese Frage treibt Klaus Bellin, der zu Mayer schreibt: »Verketzert als Realismusverächter und Dekadenzanhänger, ging er der DDR genauso verloren wie, fast zu selben Zeit, die Freunde Peter Huchel und Ernst Bloch.« Mit dieser Frage lesen wir auch die Texte über Thomas Brasch, Johannes Bobrowski, Fritz Rudolf Fries, Rolf Schneider, Stefan Heym oder Brigitte Reimann. Und natürlich über Stephan Hermlin, den Abgründigen, geheimnisvoll-Vornehmen, den man nach der Wende durch üble Nachrede tödlich verletzte.

Hermlin war ein Mit-Liebender der Bücher und Autoren, die er las und von denen er wollte, dass auch andere sie lesen. Diesen Reichtum kann man teilen und wird nicht ärmer dadurch, im Gegenteil! An Hermlin hängt, so scheint mir, Bellins Herz besonders. Denn auch Klaus Bellin, der heute 90 Jahre alt wird, ist ein Mit-Liebender der Autoren, über die er schreibt.

Klaus Bellin: Was bleibet aber – Schriftsteller in der DDR. Quartus-Verlag, 198 S., br., 16 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181614.gegenwelten-kuenstlerleid-und-schaffenszwang.html?sstr=bellin
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160467.fuehmann-er-wollte-anders-sehen-lernen.html?sstr=fühmann
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186637.ddr-und-brd-deutsche-nationalhymnen-ohne-schoene-sonne.html?sstr=johannes|becher