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- Rentenstreit in der Union
Neoliberale Zerstörungspolitik bei der Rente
Nicole Mayer-Ahuja über das Rentenpaket der schwarz-roten Koalition
Drohte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Rentenpaket auseinanderzubrechen? Hat Fraktionschef Jens Spahn seine Leute noch im Griff? Stürzt demnächst die Regierung? Solche Fragen lenken davon ab, worum es eigentlich geht.
Hauptstreitpunkt war die Festschreibung einer »Haltelinie« für das Rentenniveau bei 48 Prozent bis 2031, die (laut Modellrechnungen) mit 12,6 Milliarden Euro staatlich abgesichert werden muss. Angesichts der Sondervermögen für Rüstung und Infrastruktur (100 plus 500 Milliarden) ist diese Summe überschaubar. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegen die deutschen Rentenausgaben ohnehin unter dem EU-Durchschnitt. Zudem stabilisiert die »Haltelinie« nur den Mangel: Um den Lebensstandard im Alter zu sichern, bräuchte es ein Rentenniveau von 53 Prozent, was letztmalig 1990 erreicht wurde. Ohne »Haltelinie« würde es bis 2030 auf 44,5 Prozent fallen.
Zum Thema: Was ist das Drama? Der Bundestag hat die Rentenreform beschlossen. Fünf Klarstellungen zur sozialen Absicherung älterer Menschen
Dies ist Ergebnis politischer Entscheidungen. Das Rentenniveau wurde schrittweise gesenkt, »Dämpfungsfaktoren« wurden in die Rentenanpassungsformel eingebaut, sodass die Alterseinkünfte langsamer steigen als die Löhne. Weil Regierungen seit Jahrzehnten prekäre Beschäftigung im Niedriglohnsektor fördern, mündet selbst langjährige Beitragszahlung immer öfter in eine Rente, die kaum über der Grundsicherung liegt. Auch darum sind die Rentenkassen leer.
Für 2026 wird mit einer Rentenreform II gedroht. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) meint, eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sei »kein Tabu«, und wieder steht das Heilsversprechen privater Vorsorge im Raum – obwohl man sich von einer Durchschnittsrente (vor Steuern) von 1350 Euro (Männer) bzw. 900 Euro (Frauen) keine Privatrente, Aktien oder Immobilien leisten kann. Und obwohl genau diese Rücklagen kassiert werden, sobald man auf Bürgergeld bzw. Grundsicherung angewiesen ist.
Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet - und wie es anders gehen kann« erscheint am 18. September bei C.H. Beck. Weitere Infos zu ihrer Arbeit finden sich auf ihrer Homepage.
Die Alternative? Deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, Verbot von Befristungsunwesen und »Minijobs«, damit Unternehmen zur langfristigen Reproduktion von Arbeitskraft beitragen. Mehr Migrant*innen (nicht nur auf dem Spargelacker und im Schlachthof) als neue Beitragszahlerinnen. Einbeziehung von Beamt*innen und Selbstständigen in die Rentenversicherung, Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze (aktuell: 8050 Euro) und einiges mehr. Trotzdem müssten Steuermittel fließen, weil die Rentenversicherung »versicherungsfremde Leistungen« übernimmt.
Stattdessen erleben wir eine neoliberale Zerstörungspolitik: Soziale Sicherungssysteme werden kaputtgespart, durch »Bürokratieabbau« handlungsunfähig gemacht, bis selbst diejenigen, für die sie da sind, das Vertrauen verlieren. Noch sind wir nicht so weit: Im »Deutschlandtrend« sprechen sich 76 Prozent der Befragten gegen die weitere Senkung des Rentenniveaus aus; 81 Prozent gegen die Rente ab 70.
Doch die Angriffe werden schärfer. Als Bärbel Bas auf dem Arbeitgebertag für das Rentenpaket ausgelacht wurde, sei ihr deutlich geworden, »gegen wen wir eigentlich gemeinsam kämpfen müssen« und »wo die Linien in diesem Land wirklich verlaufen«. Seit 1999 war die Sozialdemokratie an sämtlichen »Rentenreformen« beteiligt. Höchste Zeit, die Seiten zu wechseln!
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