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Etwas Zeitloses braucht der Mensch
Gelassen und aufgeschlossen: Der eigensinnige Expressionist Otto Mueller in der Berliner Galerie Nierendorf
Es kann ein Highlight in der weiten Landschaft der bildenden Künste bewundert werden: Gemälde, Grafiken, Drucke aus der Frühphase des deutschen Expressionismus, der die Weltkultur so sehr bereichert hat. Die Berliner Galerie Nierendorf zeigt »Otto Mueller und seine Weggefährten«, worunter die Gründungsmitglieder der Dresdner Künstlergemeinschaft »Die Brücke« zu verstehen sind. Bekannte und beliebte Motive wie die Akte in freier Natur oder Muellers »Zigeuner«-Bilder hängen neben ausgesprochenen Raritäten; gelegentlich ist unter den Lithografien im Katalog vermerkt: »Eines von drei bekannten Exemplaren« oder »Eines von zwei kolorierten Abzügen«. Alle Werke befinden sich im Besitz der Galerie.
Der beeindruckende Fundus an den Wänden ist aus der Sammlung des 2015 gestorbenen Galeristen Florian Karsch hervorgegangen, der auch das Werkverzeichnis der Grafik Otto Muellers erarbeitet hat. Bilder erzählen Geschichten, manchmal auch ihre eigene. Das wunderbare, großformatige Aquarell »Stehendes Mädchen im Walde« trägt auf der Rückseite einen roten Stempel und ein »E 16 558«, was besagt, dass das Bild unter dieser Nummer 1937 als »entartete Kunst« beschlagnahmt worden ist. Über das nicht weniger eindrucksvolle, mit Farbkreide überzeichnete Aquarell »Akt auf blauem Grund« erzählte Karsch: Als er für eine Ausstellung Preise festlegen wollte, legte die Erbin, die geschiedene zweite Frau Muellers, Elsbeth Herbig, das Blatt auf den Stapel der Minderwertigen. »Das ist nicht gut.« Karsch wunderte sich. Dem Maler hatte seine Schülerin an der Breslauer Kunstakademie Modell gestanden, Elfriede Timm, die er noch auf dem Totenbett geheiratet hat, damit sie versorgt sei.
Die Galerie Nierendorf ist die älteste private Gemäldegalerie Berlins. 1920 in Köln gegründet, zog sie 1924 an den Kurfürstendamm um. Unter der faschistischen Diktatur musste Josef Nierendorf die Berliner Räume aufgeben, aber sein Bruder Karl hatte in New York City schon eine Dependance eröffnet. 1955 konnte der Stiefsohn Josef Nierendorfs, eben jener Florian Karsch und dessen Mutter mit Restbeständen die Galerie in Berlin-Tempelhof wiedereröffnen. Heute befindet sich die Galerie in der Hardenbergstraße 19, Nähe Bahnhof Zoo, im Obergeschoss, man muss an der Haustür klingeln. Aber keine Scheu! Die Besucher werden offenen Herzens empfangen.
Mueller, 1874 in der schlesischen Kleinstadt Liebau als Sohn eines Armeeleutnants geboren, hatte an der Kunstakademie Dresden studiert. Dort verliebte er sich in die schöne Maria Mayerhofen, genannt »Maschka«, die er 1905 heiratete. Eine schwierige Beziehung. Er mystifizierte in seinen Bildern die Liebe, das Mutter-Kind-Thema – aber mit den realen Frauen ist er nie glücklich geworden. Als der Künstler nach Breslau berufen wurde, konnte sich Maschka nicht vorstellen, in die schlesische Provinz zu folgen; sie ließen sich 1920 scheiden. Die Farblithografie »Paar am Tisch« (Selbstbildnis mit Maschka, auch die »Absinthtrinkerin«) ist ein Zeugnis der Entfremdung. Maschka zeigt dem sehnsuchtsvollen Blick des Liebhabers die kalte Schulter. Dennoch war sie die einzige Frau, mit der er bis zu seinem Tod verbunden blieb.
Etwas älter als die anderen Brücke-Künstler beeindruckte Mueller durch seine geistige Aufgeschlossenheit. Er war mit Gerhard Hauptmann befreundet und nach Italien gewandert. Er hatte Wilhelm Lehmbruck und Rainer Maria Rilke kennengelernt. Auch seine neuartige, flächige Malweise faszinierte; er nutzte zumeist Leimfarben auf Rupfen. Die Gemälde heben sich von den meist farbintensiven Arbeiten seiner Kollegen durch ihren dunklen, »erdigen« Ton ab. Beispielhaft hierfür in der aktuellen Ausstellung »Häuser mit grünen Dächern« und »Dorfstraße am Abend«.
Seinem großen Thema, dem Einzel- oder Gruppenakt in der Landschaft, blieb er bis zum Lebensende treu. Diese Werke versinnbildlichen die Sehnsucht nach Harmonie zwischen Mensch und Natur. Die Nacktkultur an den Moritzburger Teichen, der »Nudisten«, wie die bürgerlichen Dresdner auf der anderen Uferseite sagten, war Legende. Besonders treffend hat es die Kulturwissenschaftlerin Christiane Remm vom Brücke-Museum in Berlin ausgedrückt: Seine Landschaften symbolisieren Vollkommenheit »in einem vom alltäglichen Dasein unabhängigen Raum«. Während Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner in dieser Schaffensphase an der spontanen Wiedergabe von Eindrücken interessiert waren, ging es Mueller darum, seinen Darstellungen die Wirkung von etwas Zeitlosem, Universellen zu verleihen. Die linearen Ausdrucksformen seiner Figuren mag nicht jedem »Naturalisten« gefallen, aber sie entsprach der souveränen Gelassenheit des Expressionismus. Sie könnte uns heute guttun.
Zwischen 1924 und 1930 unternahm der Künstler ausgedehnte Reisen nach Ungarn und Rumänien, wo er sich für den Lebensstil der Roma interessierte. Über deren soziale Diskriminierung hat er sich wenig Gedanken gemacht. Er verehrte ihre Kultur, auch ihren Okkultismus und empfand sich als wesensverwandt. Die vor Ort angefertigten Skizzen dienten ihm als Vorlage für im Atelier angefertigte Gemälde, Aquarelle und Grafiken. So entstand die »Zigeuner«-Mappe, wie er es nannte, eines der bekanntesten Werke Muellers: Neun farbige, stilistisch und thematisch einheitliche Lithografien. Sie wurden erstmalig 1927 in der Galerie Nierendorf ausgestellt. Beeindruckend ist die »Zigeunermadonna«: eine selbstbewusste, eine Pfeife rauchende junge Mutter mit Kind auf dem Schoß. Das Rad des Planwagens hinter ihrem Kopf fungiert als Heiligenschein.
Der Vertrauteste unter den Gründungsmitgliedern der »Brücke« war ihm Erich Heckel. In Berlin hatte er dessen Atelier übernommen. Als Mueller 1930 in einer Lungenheilanstalt starb, hat er den Nachlass geordnet, teilweise mit seiner Signatur dessen Authentizität bestätigt. Das vielleicht markanteste Porträt des Weggefährten stammt von ihm, kurz nach dem Tod vom Stein gedruckt. Seine sowie Kirchners und Max Pechsteins Grafiken runden das Bild ab. Eine Umschau lohnt sich.
»Otto Mueller und seine Weggefährten« in der Galerie Nierendorf, Hardenbergstraße 19, Berlin. Bis 20. Februar, Di bis Fr 11 bis 18 Uhr.
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