- Politik
- Kinder auf der Flucht
Versklavt, sexuell ausgebeutet, in Milizen gezwungen
Lanna Idriss über die Verletzung der Grundrechte von Minderjährigen und Möglichkeiten zu ihrem Schutz
Weil so viele Kinder auf der Flucht spurlos verschwinden, fordert SOS-Kinderdörfer weltweit sichere Fluchtwege und den Schutz von Kinderrechten. Wie kann das aussehen?
Entlang der Fluchtroute braucht es allem voran sogenannte Safe Houses. Hier geht es erst einmal nur um Schutz. In Staaten wie Tunesien, in denen verschärfte Abschiebungsprogramme existieren, bekommen wir dafür keine Genehmigungen, vermutlich weil befürchtet wird, dass mehr Kinder ins Land kommen. Wir könnten hier eine Rolle spielen, aber so hat SOS Tunesien nur die Möglichkeit, bestehende SOS-Kinderdörfer in den Ballungsräumen für Kinder auf der Flucht zu öffnen. Im Senegal haben wir auch sogenannte Transfer Homes. Sie sind darauf ausgerichtet, dass sich die Kinder und Jugendlichen für acht bis zwölf Wochen dort aufhalten, wo sie sind, während wir in der Zwischenzeit eine langfristige Lösung mit ihnen finden. Manche entscheiden sich dann aber auch weiterzuziehen. Wir versuchen in dieser Zeit auch, Emergency-Bildung einzurichten. Entweder sie dürfen in die Schulen gehen, die schon da sind und werden dabei von lokalen Organisationen unterstützt, oder wir eröffnen sogenannte Emergency-Klassen – diese können auch in einem Container sein.
Und was passiert mit jungen Menschen, wenn sie volljährig werden?
Für die Volljährigen, die oft unter sehr großem Druck von ihren Familien stehen, versuchen wir je nach Alter Ausbildungs- und Einkommensmöglichkeiten in der Region zu generieren, in der sie sich gerade aufhalten. Das Volljährigkeitsalter ist in manchen Ländern bei 16, in anderen bei 18 oder 21 Jahren. Ihre Unterbringung kann in sogenannten Care Leaver Homes, aber auch in Kinderdörfern sein. Erfahrungsgemäß ist es für ihre Entwicklung jedoch am allerbesten, wenn wir für sie eine Pflegefamilie finden. Wenn wir das erreichen können, Schutz und Bildung, dann führt uns das zum dritten wichtigen Punkt der Kinderrechtskonvention, dem Recht auf bestmögliche Entwicklung. Es bedeutet auch, dass man damit den Zugriff auf Kinder und Jugendliche durch Schlepperbanden unterbindet. Und das geht nur mit Community. In Ländern wie Libyen ist das absolut unmöglich, und Tunesien scheint alles dafür zu tun, dass es auch dort unmöglich wird. Deshalb würde ich immer vom Kindeswohl aus argumentieren, dass diese Hängepartien, diese Wartesituation unbedingt aufgehoben werden muss, auch bei uns in Europa.
Warum verschwinden so viele Kinder aus staatlicher Obhut?
Lanna Idriss ist Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdörfer weltweit e.V.
Sie beobachtet eine Zunahme bei Kinderrechtsverletzungen, allem voran durch Menschenhandel und sexualisierte Gewalt. Betroffen sind vor allem unbegleitete Minderjährige auf Fluchtrouten durch afrikanische Länder nach Europa und Saudi-Arabien. Derweil kämpft die Organisation nach vor sechs Wochen bekannt gewordenen Missbrauchsfällen in Österreich auch um ihre eigene Glaubwürdigkeit.
SOS-Kinderdörfer bekommt auch Kinder aus staatlicher Obhut und von Familiengerichten zugewiesen. Der Grund kann ein unrechtmäßiger sein, wie in Syrien während des Assad-Regimes, was ein extremes Beispiel ist. Da stecken wir aktuell noch mitten in der Aufarbeitung und der Suche nach vermissten Kindern. Zumeist stehen Zuweisungen in Verbindung mit dem vollständigen Verlust der elterlichen Fürsorge und mit häuslicher Gewalt – das heißt, dass Kinder und Jugendliche zu ihrem Wohl aktiv aus Familien herausgenommen werden. Die mit Abstand größte Anzahl der Minderjährigen, die verloren gehen, kommt derzeit aus dem Sudan. Dahinter stehen sehr häufig Mehrfach-Fluchtsituationen: Sehr viele Kinder mussten immer wieder von einem Ort zum anderen fliehen und haben dabei die elterliche Betreuung oder auch Fremdbetreuung verloren. Und mit jedem einzelnen Mal sind Kinder mehr Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt.
Manchmal werden Kinder und Jugendliche von ihren Familien allein losgeschickt.
Diese Situation haben wir bei kriegerischen Konflikten, immer häufiger aber auch aufgrund von Klimakatastrophen. Sie laufen aber auch selber weg, wenn das Urvertrauen des Kindes zur Familie oder Betreuungsperson absolut zerbrochen ist. Insbesondere im Sudan und in seinen Nachbarstaaten erhöht sich dann die Wahrscheinlichkeit enorm, dass das Kind in einen Teufelskreis der Ausbeutung hineingerät, in dem mit jedem Mal die Chance geringer wird, Mädchen und Jungen in eine Betreuungsstruktur zu integrieren oder zu ihrer Familie zurückzubringen. Am Ende steht dann oft Menschenhandel, bei dem die Kinder sexueller oder Arbeitsausbeutung zugeführt werden, oder sie werden militärisch ausgenutzt.
So wie in Somalia oder Mosambik?
Ja. Dort wird der Verkauf der Minderjährigen an terroristische Organisationen wie al-Shabaab in Somalia, ISIS oder auch an die Kriegsparteien ein Mittel, den täglichen Überlebenskampf zu bewältigen. In diesem teuflischen Kreislauf und mit jeder Situation, in der ein Kind verkauft wird, wird es schwieriger, eine integrative Basis in der Community zu schaffen, in der sie sich gerade befinden. Auch die Rückführung in familiäre Strukturen wird dann irgendwann unmöglich.
Aus welchen Gründe sind Minderjährige auf der Flucht noch sich selbst überlassen?
In Dschibuti, am Horn von Afrika, haben wir die Erfahrung gemacht, dass in SOS-Kinderdörfern und SOS-Familienzentren oft auch sehr, sehr kleine Kinder zurückgelassen werden, die auf der Flucht geboren wurden. Ich war in einer Aufnahmeeinheit des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Dort berichteten mir alle anwesenden Frauen, sie seien auf der Flucht vergewaltigt worden. Oft mussten sie für den Fluchtweg mit Sex bezahlen, wurden ungewollt schwanger und ließen die Kinder dann eben bei uns zurück. In Europa haben wir Dschibuti nicht so im Blick, weil es kein Transitland auf der Fluchtroute nach Europa ist, sondern nach Saudi-Arabien.
Was bedeutet das für Hilfsorganisationen und Behörden, die sich um die Zurückgelassenen kümmern?
Man kann zum Teil sehr klar erkennen, dass der Herkunftsort der Kinder nicht in Dschibuti, sondern ganz häufig in Eritrea, Somalia oder Äthiopien liegt. Daher ist die Feststellung ihrer Identität geradezu unmöglich. Das hat drei Effekte: Die staatlichen Kinderheime sind voll, das SOS-Kinderdorf ist voll und die Anzahl der Straßenkinder wächst in Dschibuti gewaltig.
Wie hoch ist der Anteil an unbegleiteten minderjährigen Mädchen?
Da wir es in Afrika mit Transit- und Ankunftsländern zu tun haben, in denen für SOS-Kinderdörfer oft keine Möglichkeiten bestehen, verlässliche Zahlen von staatlicher Seite zu bekommen, wissen wir das nicht. Was ich aber sagen kann ist, dass der Anteil der Mädchen wächst und dass vor allem im Sudan die Anzahl der Fälle von sexualisierter Gewalt unglaublich nach oben gehen. Für das Ausmaß an sexualisierter Gewalt, auch als Waffe in der kriegerischen Auseinandersetzung im Sudan, lassen sich keine Worte mehr finden.
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Aktuell hat Ihre Organisation selbst mit einem Skandal zu kämpfen: In Österreich, wo die ersten SOS-Kinderdörfer entstanden, sollen sich neben deren Gründer Hermann Gmeiner und dem ehemaligen Präsidenten Helmut Kutin weitere Personen an Kindern sexuell vergangen haben. Wie geht SOS-Kinderdörfer weltweit damit um?
Vor einigen Wochen erfuhren wir aus der Presse von weiteren Missbrauchsfällen bei SOS-Kinderdörfer Österreich und dass in acht Fällen bereits Kompensationszahlungen stattgefunden haben. Leider liegen uns in Deutschland bisher nur relativ wenige Hinweise vor. Bis auf Weiteres haben wir deshalb SOS Österreich suspendiert. Auch die für mich erwiesenen Verfehlungen des Gründers Hermann Gmeiner – denn »Vater« würde ich ihn nun nicht mehr nennen – haben uns zutiefst getroffen. Wir verurteilen alle Taten strikt.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Alles, was wir zu Hermann Gmeiner in unserer Vereinshistorie finden konnten, haben wir auf den Prüfstand gestellt und sind immer noch damit beschäftigt, Hinweise zu suchen, mit denen wir zur Aufklärung beitragen können. Wir arbeiten innerhalb der Föderation in den jeweiligen Ländern eigenständig. Deshalb haben wir uns in den letzten drei Jahren allein auf den Weg gemacht und eine interne Prüfung initiiert. Wir können noch nicht ausschließen, dass anderen Mitarbeitern schon früher Kenntnisse vorlagen. Ich möchte daran erinnern, dass Gmeiner 1986 gestorben ist. Zu dieser Zeit gab es noch keine digitalen Medien. Das heißt, die Aufarbeitung ist ein aufwendiger Prozess über Papier. Vor zwei Jahren haben wir mit der deutschen Staatsanwaltschaft auch in Bezug auf den ehemaligen Präsidenten Helmut Kutin Kontakt aufgenommen. Wir blicken also in eine Vergangenheit, die definitiv sehr patriarchalisch geprägt war, und wir müssen uns damit auseinandersetzen, warum sie das war. Warum waren gerade die mächtigsten Personen daran beteiligt? Es ist mir persönlich sehr wichtig, dass wir dem ins Auge sehen. Denn dann erst können wir es besser machen. Wir müssen als Föderation dafür Verantwortung übernehmen und wollen das auch.
Was ändern Sie an den Strukturen in der internationalen Föderation der Kinderdörfer?
Inzwischen haben wir Konsequenzen in allen Prozessen gezogen, die noch nicht ausreichend angepasst waren. Dazu gehören der Kinderschutzbereich, der Bereich der Steuerung und Führung und der Förderung von Programmen. Es geht darum, welche Bedingungen wir in Zukunft an unser Personal stellen wollen. Da gehört für mich ganz klar hinzu, dass wir die Führungskompetenzen von Frauen fördern wollen. In den letzten drei Jahren haben wir außerdem Whistleblower-Kanäle und ein Incident Management System aufgebaut. So können schneller Vorfälle identifiziert und Konsequenzen gezogen werden.
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