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»So’ne Wut, wissen Se?«
Laura Laabs erzählt in »Adlergestell« von Umbruchzeiten aus Kindersicht
Zwei kleine Mädchen verstecken sich bei einer Geburtstagsfeier unterm Tisch, »während die Alten oben von den Kriegen und den Ländern sprachen«. Heimlich angeln sie sich erst Katzenzungen und dann Schokobecher, die sie mit Eierlikör füllen. »Eine kichernde Wärme breitete sich von meinem Bauch in meinen Kopf aus. Lenka war da, ihre Augen strahlten wie immer, oder vielleicht ein bisschen mehr, wir hatten unser eigenes kleines Reich außer Reichweite der Erwachsenen, die uns vergessen zu haben schienen …« Als sich die freche Chaline zu den beiden gesellt, wird’s noch bunter. Sie klauen, prügeln sich und hängen sich abgebrochene Mercedes-Sterne um den Hals.
Was selbst erlebt ist und was erdacht in ihrem Debütroman, könnte Laura Laabs nur selber sagen. Sie wurde 1985 wie ihre Ich-Erzählerin in einer Reihenhaussiedlung nahe der längsten Straße Berlins geboren, dem Adlergestell. Und so hat sie auch ihren Roman genannt, aus dem sie dieses Jahr schon in Klagenfurt vorgetragen hatte.
Mal taucht sie ganz in die Turbulenzen ihres ersten Schuljahrs ein, dann kommt ihr in den Sinn, was später geschah. Und das hängt durchaus mit den Brüchen jener Umbruchzeiten zusammen, welche die Heranwachsenden nicht durchschauten und dabei oft allein gelassen wuren. Um ihr Leben abzusichern, brauchten die Erwachsenen ihre ganze Kraft; die Kinder sollten es ihnen nicht noch schwerer machen.
Aber das taten sie. Was ihre Eltern an Ängsten, Frust und Wut hinunterschluckten, lebten sie aus – auf eine so freie, wilde Weise, dass es geheim bleiben musste. Der Reiz dieses Romans für die Älteren ist, wie sie beim Lesen immer wieder mit eigenen Erfahrungen konfrontiert werden. Wenn die drei Mädchen beispielsweise die »Dzierzyński-Kasernen« jenseits der großen Straße erkunden, ist das für sie nur ein verbotenes Abenteuer. Doch für andere aber taucht hinter der »Sprelacart-Schrankwand mit den vergilbten Akten« eine ganze Geschichte auf. Oft braucht die Autorin nur knappe, scheint’s beiläufige Bemerkungen, um ein ganzes Gedankenkarussell in Gang zu setzen.
Die Tochter der bekannten Publizistin Daniela Dahn und des Schriftstellers Joochen Laabs besteht auf künstlerischem Eigensinn. Sie hat sich vor diesem Buch einen Namen als Hörspiel- und Filmregisseurin gemacht. Gerade wurde ihr Film »Rote Sterne überm Feld« zum Erfolg. Laura Laabs denkt szenisch, wie in einem Film gibt es plötzliche Schnitte.
Kaum hat man sich mit den drei wilden Mädchen angefreundet, kommen andere Figuren in den Blick. Frau Schiller, die drei Männer und drei gesellschaftliche Systeme überlebte, Chalines Mutter Vanessa, die minderjährig von ihrem Trainer verführt wurde, Lenkas Vater Wulf, der arbeitslos wurde und nun mit seinem Zorn nicht klarkommt, oder die verständnisvolle Tante Nora, die im bayerischen Trostberg lebt und bald in ein Altenheim verfrachtet wird. Oder Eleftheria, die sich in Deutschland für keine Arbeit »zu schade« war, was ihr niemand dankte, und nun von ihren Söhnen zurück nach Griechenland gezwungen wird (die elf Seiten hätten einen ganzen Roman tragen können).
Da ist überhaupt vieles, was noch auserzählt werden könnte. Wann war es wohl, dass sich die Ich-Erzählerin in Eleftherias Sohn Panos verliebte, der stolz war, als »schwer erziehbar« zu gelten? Man versteht, warum sie ihn verließ. Und wie war es mit Jan, der ein Adler-Tattoo auf der Brust trägt? Die Mutter hält ihn für einen Nazi. Ist das so?
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In den Romantext eingeschoben auf schwarzem Papier: Traumsequenzen, Fernsehbilder, Werbespots, Reminiszenzen an ein Computerspiel über Lemminge, das eine »Armageddon-Taste« hat. Die Tochter kann die Mutter wohl verstehen: »Sie hat immer im Sozialismus leben wollen. Aber nicht in diesem … Sie hat immer in einer Demokratie leben wollen. Sie hat nie im Kapitalismus leben wollen.« Aber das ist Vergangenheit.
Eine große Szene gibt es, als die Bewohner der Siedlung gegen die Rückübertragung ihrer Häuser an einstige Eigentümer aus dem Westen protestierten. Daniela Dahns Buch »Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?« handelte davon. Bei der Demonstration fliegen Steine aufs Adlergestell. Eine Frau wird schwer verletzt und »fünf Autos Totalschaden«. Ein Polizist vermutet, dass das Kinder gewesen sein könnten: »Dit is nich mehr wie früher. Da is keen Repekt mehr. Da ist nur noch blanke Doofheit. Und Wut. So’ne Wut, wissen Se?«
Unablässig rauscht der Verkehr übers Adlergestell: »Vielleicht fließt der Strom der Zeit diese Straße entlang.« In diesem Zeitstrom hat es damals einen Bruch gegeben, der irgendwie nicht heilen will. Und nun fürchten wir wieder, dass etwas zerbricht. Immerhin wurde die »Wende« bei allen Enttäuschungen im Osten von vielen herbeigesehnt. Die »Zeitenwende« aber bricht einfach über uns herein. Gefühle der Unsicherheit und Ohnmacht – Wut wird politisch. Laura Laabs ist ein einprägsamer »Wenderoman« gelungen, in dem zugleich viel Aktuelles steckt.
Laura Laabs: Adlergestell. Tropen Verlag, 227 S., geb., 24 €.
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