Wohnkosten vergrößern Ungleichheit

Menschen mit geringerem Einkommen rutschen durch Mieten leichter unter Armutsgrenze

Nicht nur der Lohnzettel entscheidet, wie viel Geld eine Person in Deutschland zur Verfügung hat. Der Mietvertrag hat einen steigenden Einfluss darauf.
Nicht nur der Lohnzettel entscheidet, wie viel Geld eine Person in Deutschland zur Verfügung hat. Der Mietvertrag hat einen steigenden Einfluss darauf.

Nicht 13 Millionen, sondern 18,4 Millionen Menschen gelten in Deutschland als arm, wenn man die Wohnkosten in die Berechnung miteinbezieht, teilt der Paritätische Gesamtverband am Dienstag mit. Damit korrigiert der Wohlfahrtsverband seine eigenen Berechnungen nach oben. »Wenn man den Blick auf das tatsächliche verfügbare Einkommen richtet, nachdem ein großer Teil direkt an den Vermieter geflossen ist, entsteht ein anderes Bild von Armut«, sagt Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, bei der Veröffentlichung des zugehörigen Berichts. Insgesamt leben laut der Berechnung 22,3 Prozent der Bevölkerung in sogenannter »Wohnarmut«.

In herkömmlichen Statistiken zur Armutsberechnung fließen Wohnkosten nicht ein. Wer 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat, gilt demnach als arm. Laut dem Paritätischen ein Fehler, denn Wohnkosten mindern das zur Verfügung stehende Einkommen. Keine andere Ausgabe nehme eine so dominante Rolle im Leben der Menschen ein und sei zugleich von »Zufällen« wie Bestands- oder Neuvertragsmieten und Verfügbarkeiten abhängig, ergänzt Rock. Das hätte sich in den vergangenen Jahren zunehmend verstärkt. »Über die Wohnkosten kann ich oft nicht frei entscheiden«, bekräftigt Berichtsautorin Greta Schabram.

Ein fiktives Beispiel zur Veranschaulichung: Die Rentnerinnen Müller und Schmidt leben beide in Ostberlin und haben der Standardrente entsprechend jeweils ein Einkommen von 1836 Euro im Monat. Frau Müller hat Glück, sie besitzt einen langjährigen Mietvertrag. Frau Schmidt dagegen muss aus gesundheitlichen Gründen eine neue barrierefreie Wohnung suchen, nach Abzug der Warmmiete bleiben ihr 936 Euro im Monat. Damit lebt sie plötzlich unter der Armutsgrenze von 1088 Euro – auch, wenn ihr Wohngeld bewilligt werden sollte.

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Ältere Menschen ab 65 Jahren sind mit 28,8 Prozent sowie junge Erwachsene von 18 bis unter 25 Jahren mit 31,2 Prozent am stärksten von Wohnarmut betroffen. Das erkläre sich durch die »Erwerbsgesellschaft«, so der Bericht des Paritätischen. Junge Menschen stehen am Anfang der Erwerbstätigkeit und sind gleichzeitig den aktuellen Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt ausgesetzt, weil sie noch keine längerfristigen Mietverträge besitzen. Bei Älteren sinkt das Einkommen durch den Renteneintritt, nicht jedoch die Wohnkosten.

Wohnarmut ist außerdem bei Alleinerziehenden (40,1 Prozent), Alleinlebenden (40 Prozent) und Paar-Familien mit drei oder mehr Kindern (31,2 Prozent) verbreitet. Unter den Alleinlebenden ist erstmals ein Geschlechtereffekt erkennbar, wie Schabram betont. 42,9 Prozent der alleinstehenden Frauen sind arm, bei den Männern liegt die Quote bei 36,5 Prozent. Das hängt vor allem mit unterschiedlicher Bezahlung der Erwerbsarbeit zusammen.

In Bremen, Sachsen-Anhalt und Hamburg ist die Armut besonders weit verbreitet, was unter anderem mit der hohen Quote an Mieter*innen zusammenhängt. Aber auch in Bayern mit der niedrigsten Armutsquote steigt die Zahl der Armutsbetroffenen durch die neue Berechnung um etwa 800 000 Personen.

Der Paritätische fordert zur Armutsvermeidung gute Löhne, mehr sozialen Wohnungsbau und die Bestandsmieten möglichst erschwinglich zu halten, zum Beispiel durch Maßnahmen wie einen verbesserten Kündigungsschutz oder ein strengeres Vorgehen gegen Mietwucher. Zwar stieg die Bezuschussung der Wohnkosten in den letzten Jahren.

»An den hohen Renditen der Wohnkonzerne sieht man aber, dass das Geld weiterhin nicht unbedingt bei der ärmeren Bevölkerung ankommt«, sagt Joachim Rock im Gespräch mit »nd«. Bevor es hier keine passende Besteuerung gebe, werde sich an der Situation nichts ändern.

»Während Immobilienkonzerne Profite machen, verlieren Millionen Menschen den Boden unter den Füßen.«

Sahra Mirow Die Linke

Ähnlich drückt es Sahra Mirow, Sprecherin für soziales Wohnen der Fraktion Die Linke im Bundestag, aus: »Während Immobilienkonzerne Profite machen, verlieren Millionen Menschen den Boden unter den Füßen. Dass die Mieten bei Neuvermietungen zwischen 2013 und 2025 um über 50 Prozent gestiegen sind, ist das Ergebnis eines marktliberalen Wahnsinns, dem tatenlos zugeschaut wurde.« Der Wohnungsmarkt sei ihr zufolge zum »zentralen Armutstreiber« geworden.

Bereits vergangenes Jahr hatte der Paritätische einen ersten Bericht zur Wohnarmut veröffentlicht. Damals waren 21,2 Prozent der deutschen Bevölkerung wohnkostenbereinigt von Armut betroffen. »Die Armutsberechnung macht mehr Sinn, wenn Wohnkosten berücksichtigt werden«, bekräftigt Schabram.

Dass Wohnen und Lebensmittelkosten inzwischen vor allem kleine Einkommen »aufzehren«, bestätigte am Dienstag auch das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Im Jahr 2023 gaben Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen demzufolge von weniger als 1300 Euro im Schnitt 64 Prozent (780 Euro) ihrer Konsumausgaben für Lebensmittel und Wohnen aus.

Im Mittel über alle Haushalte lag der Anteil für Lebensmittel und Wohnen dagegen bei etwas mehr als der Hälfte (52 Prozent) der privaten Konsumausgaben. Bei Haushalten mit einem hohen Einkommen ab 5000 Euro waren es 47 Prozent. In den Berechnungen des Statistischen Bundesamts zählt Wohnen zu den privaten Konsumausgaben, wie etwa Ausgaben für Kleidung, Verkehr, Freizeit, Gesundheit oder Bildung.

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