Mit Sonnenbrillen und roten Masken wollen sie am Donnerstag in einer Woche vor dem Roten Rathaus protestieren – wenn 100 Kolleg*innen zuvor ihr Kommen ankündigen. Die Masse soll ihnen weitere Anonymität ermöglichen. Denn was die Beschäftigten von freien Trägern[1] vorhaben, ist nicht legal: Sie rufen ihre Kolleg*innen dazu auf, sich krankschreiben zu lassen, um am 18. Dezember die Arbeit liegen lassen und an dem Protest teilnehmen zu können.
»Wir sehen keinen anderen Ausweg mehr«, sagte eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt zu »nd«. Sie hat die Initiative mit angestoßen. »Wir haben vor dem Roten Rathaus protestiert, Brandbriefe geschrieben, aber es wird sich nichts ändern, solange wir das weiter mit uns machen lassen«, sagte sie. Sie gehe lieber zum Streik, als ein Burn-out zu bekommen.
Mit ihrem Protest hängen sich die Beschäftigten an die große Kundgebung der DGB-Gewerkschaften, die am selben Tag den öffentlichen Dienst der Länder in den Warnstreik[2] ruft. Im Abgeordnetenhaus soll dann auch der Haushalt für die Jahre 2026 und 2027 verabschiedet werden.
Die kleine Gruppe von Beschäftigten fordert neben einer Angleichung ihrer Arbeitsbedingungen an den Tarifvertrag der Länder (TV-L)[3] und der Zahlung der Hauptstadtzulage, dass die Koalition von CDU und SPD »alle Kürzungen« im Bereich der freien Träger zurücknimmt und für eine »solide Ausfinanzierung« sorgt. Zuletzt hatte die Regierungskoalition auch beim Topf für die freien Träger noch mal nachjustiert. Für Lohnsteigerungen aus Tarifabschlüssen im Bildungsbereich in den kommenden zwei Jahren gab sie jeweils 10,5 Millionen Euro frei. Etliche auch soziale Projekte sollen nun mehr Geld erhalten[4], als im ursprünglichen Entwurf vorgesehen.
Die Landesregierung sieht in den kommenden zwei Jahren Rekordausgaben von jeweils mehr als 40 Milliarden[5] Euro vor. Dafür wird die mit 67 Milliarden Euro verschuldete Hauptstadt weitere Kredite aufnehmen müssen. Die Beschäftigten hinter der Protestaktion fordern nicht nur mehr Geld – sie beziffern die Lohndifferenz zum öffentlichen Dienst auf 15 bis 20 Prozent. Es gehe auch um Planbarkeit.
Laut der Mitarbeiterin der Beratungsstelle für sexuelle Gewalt wisse ein Teil ihrer Kolleg*innen noch nicht, wie es im kommenden Jahr für sie weitergeht: »Manche zittern, andere kündigen.« Sie kritisierte die späte Entscheidung über den Haushalt zwei Wochen vor dem Jahreswechsel. Darüber hinaus sollten ihr zufolge mehr Angebote durch die Überführung von der Projekt- in die Grundförderung dauerhaft abgesichert werden.
»Wir haben vor dem Roten Rathaus protestiert, Brandbriefe geschrieben, aber es wird sich nichts ändern, solange wir das weiter mit uns machen lassen.«
Mitarbeiterin einer Beratungsstelle
gegen sexuelle Gewalt
Wie die Mitarbeiterin der Beratungsstelle erklärte, wünsche man sich mit der Aktion in erster Linie Aufmerksamkeit für die Arbeitsbedingungen der 100 000 Beschäftigten von freien Trägern und dafür, »dass die Daseinsvorsorge gerade gegen die Wand[6]« gefahren werde.
Mit ihrer Arbeit in der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt komme sie regelmäßig an ihr Limit, weil sie angesichts der Rahmenbedingungen[7] ihre Arbeit nicht mehr gut machen könne. »Wir finden für junge Menschen kaum noch eine Unterkunft. Aufgrund mangelnder Frauenhausplätze müssen wir Betroffene immer wieder nach Hause schicken«, sagte die Frau.
Über einen Telegram-Kanal sammelt die Gruppe Zusagen. Am Mittwochnachmittag hatten dort 77 Beschäftigte ein »Streikversprechen« abgegeben, darunter vier komplette Teams. Wer hinter den Zusagen steht und ob es sich dabei tatsächlich um Beschäftigte von freien Trägern handelt, lässt sich nicht überprüfen. Die Gruppe empfiehlt, sich für den einen Tag krankschreiben zu lassen. Selbst wenn rauskäme, wer sich unrechtmäßig habe krankschreiben lasse, rechne man nicht mit vielen arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Viele Leitungen hätten ebenfalls ein Interesse daran, dass sich etwa ihre finanzielle Situation nicht weiter verschlechtere, so die Mitarbeiterin. Dennoch, wer sich wohler damit fühle, solle gerne Überstunden abbauen, um an der Aktion teilzunehmen.
Die Gewerkschaft Verdi führt die Verhandlungen in der Tarifrunde der Länder. Die freien Träger gehören zu einem separaten Organisationsgebiet von Verdi. Dort gelten andere Tarifverträge. »Wir teilen den Ärger der Beschäftigten bei den freien Trägern über die Politik des Senats«, erklärt Verdi-Sprecher Kalle Kunkel auf Anfrage von »nd«. Weiter sagt Kunkel, Arbeitsniederlegungen seien in Deutschland nur im Rahmen von Tarifverhandlungen ohne rechtliches Risiko möglich. »Über dieses Risiko müssen sich die Beschäftigten bewusst sein«, so der Verdi-Sprecher.
Das massenhafte Krankschreiben, um eine Arbeitsniederlegung jenseits von Tarifverhandlungen zu ermöglichen, wird auch als »Sick-out« bezeichnet. Die Taktik wird unter der Hand hin und wieder auch von Gewerkschaften eingesetzt, etwa zum Umgehen der Friedenspflicht, zur Durchsetzung nicht tariffähiger Forderungen oder um arbeitsrechtlich wenig geschützte Beschäftigte in einen Arbeitskampf einzubeziehen. 2016 etwa sollen bis zu 500 Beschäftigte von Tui fly[8] 2000 Krankentage verursacht und den Betrieb nahezu zum Erliegen gebracht haben, mutmaßlich um gegen den drohenden Verkauf der Fluggesellschaft zu protestieren. Sie gehört heute noch zum Mutterkonzern Tui.