Die politische Linke befindet sich heute in einem Moment großer Schwäche. Zumindest sind die Energien des emanzipatorischen Aufbruchs des Jahres 1968 heute an ihr Ende gekommen, von denen die Linke bis in die 2010er Jahre gezehrt hatte. Die Protestbewegung von 1968 äußerte ein Bedürfnis nach umfassender kultureller Erneuerung, die sich auf die Kritik an kapitalistischer Ausbeutung, Sexismus und Kolonialismus stützte und auf die Erprobung andersartiger Lebensweisen mit revolutionärem Anspruch abzielte. Stattdessen droht nun eine radikale autoritäre Revision der progressiven Errungenschaften aus diesem Geiste.
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Historisierungs- und Rückbesinnungsversuche der progressiven Hochphase zwischen 1964 und 1984 en vogue sind – es braucht sie zur Orientierung und Neuausrichtung. Eine solche Bilanz unternimmt der kürzlich erschienene Sammelband »Als die Geisteswissenschaften populär waren« von Jörg Döring und Morten Paul im Harrassowitz-Verlag, der »Westdeutsche Schreibweisen, Lektürepraktiken, Verlagspolitiken um 1970« unter die Lupe nimmt. Darin wird eine medientheoretische Bestandsaufnahme erprobt, die ein Licht auf die kulturellen sowie ökonomischen Bedingungen des emanzipativen Aufbruchs von 1968 wirft.
Der Band untersucht das »goldene Zeitalter der Geisteswissenschaften« in der BRD zwischen den 60er und 80er Jahren. Dabei folgt er der materialistischen These, dass die Konjunktur von Theorie und Aufklärung nicht etwa auf die »Bildungsexpansion« oder gar die »gesellschaftskritische Emphase« der 68er-Protestbewegung zurückzuführen ist, sondern auf die Ausweitung des wissenschaftlichen Taschenbuch-Marktes. Konkret: auf den massenhaften Vertrieb von geisteswissenschaftlichen Texten durch Publikums-Verlage und das Konzept der Taschenbuchreihen.
Dieser Fokus auf die Marktentwicklung, Verlagspolitiken und Lektürepraktiken, also auf die Produktionsmittel und Rezeptionsformen, erlaubt es, die gesellschaftlichen und praxeologischen Bedingungen emanzipativer Theoriebildung in den Blick zu nehmen. Darin folgt der Band einer Tendenz zur Verlags- und Theoriegeschichtsschreibung innerhalb der Literaturforschung, deren Beginn grob auf die 2010er Jahre zu datieren ist – ein Genre, für das Philipp Felschs »Der lange Sommer der Theorie« über den Berliner Merve-Verlag mittlerweile als Klassiker gelten kann.
Wer etwas über Theorie sagen möchte, muss über das Buch und das Lesen sprechen.
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Auch Döring und Paul folgen weitestgehend einer Einsicht Felschs, dass »Theorie wie auf einen Fluchtpunkt auf eine Reflexion über das Medium des Buches und die Praxis des Lesens« hinausläuft. Wer etwas über Theorie sagen möchte, muss also über das Buch und das Lesen sprechen. Insofern erzählt der Band ohne Anspruch auf Systematik schlaglichtartig »Taschenbuchgeschichten«. Anhand exemplarisch ausgewählter Theorie-Ikonen werden sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsgeschichten geisteswissenschaftlicher Texte beleuchtet.
Unter den Einzelstudien finden sich Klassiker wie Roland Barthes’ »Mythen des Alltags«, Walter Benjamins »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« oder Angela Davis’ »Rassismus und Sexismus«. Aber es geht auch um Texte mit einem harten Zeitkern, wie Jürgen Habermas’ »Erkenntnis und Interesse« oder Hans Peter Duerrs »Traumzeit«, die nach 1968 eher in Vergessenheit geraten sind. So zeichnet der Band ein komplexes Panorama des westdeutschen Theoriediskurses um 1970 und der dazugehörigen Lese- und Lebensweisen.
Am deutlichsten wird die prickelnde intellektuelle Stimmungslage im Band wohl durch Fabienne Steegers Beitrag zum autofiktionalen Tagebuchroman »Klassenliebe« (1973) aufgefangen. Dieser entstand zeitgleich mit einem Promotionsvorhaben – und letztlich anstatt dessen – zur »Ästhetik der Arbeiterliteratur«.
Das Werk erschien als einer der wenigen nicht theoretischen Texte in der frühen Phase der Taschenbücher der Edition Suhrkamp. Struck thematisiert darin den als krisenhaft erlebten Bildungsaufstieg des Arbeiterkindes Karin S. Anhand der Darstellung der literarischen und theoretischen Lesebewegungen der Autorin, die in ihren Tage- und Notizbüchern festgehalten sind, beschreibt Steeger die Entfremdungserfahrungen der Karin S. während des Studiums und führt so die Schwierigkeiten der Aneignung eines bildungsbürgerlichen Kanons vor Augen. Dem Beitrag gelingt über die Beschreibung individueller Lektüre- und Schreibpraktiken die Rekonstruktion der Entstehung einer neuen Subjektivität um 1968 – verstanden als literarische Gattung wie auch als Versuch der Auslotung der (Un-)Möglichkeit emanzipativer Lebensformen.
In eine ähnliche Richtung weist auch der Beitrag von Detlef Siegfried. Dieser thematisiert die kulturrevolutionäre Aneignung Walter Benjamins durch den Musikkolumnisten Helmut Salzinger. Jener übertrug Benjamins gegen den Faschismus gerichtetes Postulat von der »Politisierung der Kunst« auf die Pop- und Rockmusik der 60er und 70er Jahre. Damit lieferte er – im ikonischen Doppel von Musik und Revolution – der subkulturellen Verbindung von Linksradikalismus und moderner Popkultur ein theoretisches Fundament. Wie auch Benjamin sah Salzinger in den modernen Reproduktionstechniken der massenmedialen Kulturindustrie demokratisch-emanzipatives Potenzial, das praktisch subversiv angeeignet und gehoben werden sollte, etwa durch das Umgehen von »Copyrights« durch Raubpressungen.
Der Fokus auf einzelne Buchgeschichten stellt dabei den Zusammenhang und die Kohärenz des Sammelbandes auf die Probe. Entgegen der Ausgangsthese, dass das Angebot des Buchmarktes die Lesetrends bestimmt, wird in den Beiträgen durchaus das Engagement der Protestbewegung bei der Verfügbarmachung und der Popularisierung von Lesestoffen betont.
Die Verlagsarbeit erscheint eher als eine Art Resonanzverstärker. Das wird deutlich in den Beiträgen von Sven Gringmuth zu Max Horkheimers Essay »Autoritärer Staat« und Yanara Schmacks zu Reichs »Die sexuelle Revolution« und »Die Funktion des Orgasmus«, deren Popularität durch die Verbreitung von Raubdruckkopien und den »Theoriedurst« der Studierenden unmittelbaren Anteil hatte. Im Falle Horkheimers wurde dadurch die Neuherausgabe der Texte der frühen Kritischen Theorie förmlich erzwungen.
Zu analogen Ergebnissen kommt Samira Spatzek in ihrem Beitrag zu Davis’ »Rassismus und Sexismus«. Sie macht den Erfolg der deutschen Übersetzung des Buches an der bewegungspolitischen Bedeutung von Angela Davis als einer »Galionsfigur« für die deutsche Linke fest. Mit Elefanten Press erschien das Buch außerdem in einem Verlag, der unmittelbar aus der 68er-Bewegung hervorgegangen ist.
Die Rezeption kontextualisiert Spatzek mit der Etablierung der African American Studies in den 60er Jahren der BRD, in die die kulturpolitische Dimension der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, im Sinne einer »Counter Culture«, unmittelbar mit einfloss. Auch über die Auseinandersetzung mit dem »Black Feminist Thinking« sei eine bis heute anhaltende analytische Verzahnung zwischen Black und Gender Studies entstanden. Dabei zeigt sich die zentrale bewegungspolitische Relevanz von »Rassismus und Sexismus«: Selbst ein Produkt der »Counter Culture«, bleibt die Rezeptionsspur des Buches in der Schwarzen Frauenbewegung in Deutschland bis über die 80er Jahre hinaus bemerkbar.
Was bleibt nun von dieser Zusammenschau lustiger Taschenbuchgeschichten? Über den Fokus auf das Medium Buch rückt der Produktionsprozess von Theorie selbst in den Blick. Lesen, Schreiben und Verlegen erscheinen so als Praktiken gesellschaftlicher Emanzipation, die ganz nebenbei auf das unabgegoltene Begehren nach revolutionärer Veränderung im goldenen Zeitalter der Geisteswissenschaft verweisen. Dabei wirft der Band mehr Fragen auf, als er klärt: Wie steht es um (linke) Theoriebildung unter veränderten medientechnischen Vorzeichen, wenn Wissensproduktion und -aneignung nicht mehr vorrangig über die klassische Lese- und Buchkultur geschehen, sondern in auditiven oder audiovisuellen (Kurz-)Formaten vom Podcast bis Instagram? Eine Kulturkritik nach 1968 müsste diesen medialen Strukturwandel zunächst einmal materialistisch erfassen, um deren volles Erbe antreten zu können.
Jörg Döring und Morten Paul (Hg.): Als die Geisteswissenschaften populär waren. Westdeutsche Schreibweisen, Lektürepraktiken, Verlagspolitiken um 1970. Harrassowitz, 224 S., br., 58 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1196153.theoriegeschichte-politik-der-taschenbuecher.html