Weit ausgedehnte Industrieparks, Schlafstädte mit winzigen Häusern, neugebaute Einkaufszentren großer Ketten aus den USA an teilweise unbefestigten Straßen und offene Abwasserkanäle: Der Süden von Ciudad Juárez mutet nicht sehr einladend an. Doch wer der Ausfallstraße, immer in Sichtweite der Mauer zu den USA, weiter folgt, dem bietet sich bald ein komplett anderes Bild. Sobald man die Stadtgrenze erreicht und das dahinter liegende Juáreztal beginnt, wechseln sich Freibäder unter alten Bäumen mit kleinen Höfen und Baumwollfeldern ab. Pferde weiden am Wegesrand, Traktoren verlangsamen den Verkehr und neben der Straße ziehen sich mit Schilf bewachsene Bewässerungskanäle entlang.
»Ich sage immer, das Juáreztal ist das Schönste, was es an der Grenze gibt«, lacht Georgina Gamboa. Die 24-Jährige ist hier aufgewachsen. »In den harten Zeiten«, wie sie sagt: Vor rund zehn Jahren tobte in der Region der sogenannte Drogenkrieg[1]. Von 2008 bis 2012 wurde Ciudad Juárez als Einfallstor für den Drogenhandel in die USA und viele Kleinstädte in der Umgebung militärisch besetzt; angeblich, um den Drogenkartellen Einhalt zu gebieten. »Jeden Tag habe ich Tote gesehen; einmal wurde ein Mann von Vermummten aus dem Bus gezerrt, in dem ich zur Schule fuhr.«
»Als ich die Einladung erhielt, einen Jugendtreff zu gründen, dachte ich, dass ich mir genau so einen Raum für junge Menschen wünsche; einen, den ich selbst nie hatte.« Ihr Mitstreiter im offenen Jugendzentrum »Okuvaj« ist Alejandro »Mono« González, der 15 Jahre älter als Georgia ist. Er studierte schon Architektur in Ciudad Juárez, als der Drogenkrieg im Tal die kritischen Stimmen zum Schweigen brachte[2], und kümmert sich nun bei der Nichtregierungsorganisation »Plan Estrategico« um Stadtentwicklung. »Inmitten der Schießereien, angeblich zwischen den Kartellen, sind viele Aktivisten, und mit ihnen die engagiertesten Menschen, entweder geflohen, getötet oder verschleppt worden«, so Mono. Viele Personen gerieten in die Schusslinie, als Militär und Bundespolizei die Siedlungen besetzten, und wurden Opfer staatlicher Repression. Soziale Bewegungen wurden zerschlagen.
In diesen Bewegungen hatte González seine Kindheit und Jugend verbracht. »Als in den 1990er Jahren eine binationale Anti-Atombewegung ein Endlager für Nuklearschrott auf US-amerikanischer Seite verhinderte«, erinnert er sich, nahmen Schulkinder an Mahnwachen und Märschen entlang der Grenze teil und forderten eine lebenswerte Zukunft in ihrem von der Landwirtschaft lebenden Tal.
»Heute streben Jugendliche danach, einen SUV zu fahren und eine hübsche Freundin zu haben. Und alle glauben, dass sie das erreichen können, indem sie in den Drogenhandel einsteigen.«
Georgina Gamboa Mitgründerin eines Jugendtreffs direkt an der Grenzmauer zu den USA
Heute sind es Mono und Georgina, die mit anderen Aktivisten Kindern und Jugendlichen alternative Sichtweisen eröffnen wollen. Im »Okuvaj« in der Siedlung Casetas organisieren sie am Wochenende Workshops zu Musik, Kunst und Literatur und bieten einen Raum zum Treffen unter Gleichaltrigen. Einladende Sofas und Gaming-Sessel stehen im Eingangsbereich. Wer zu früh kommt und vor verschlossener Türe steht, kann sich auf den Bänken vor dem einstöckigen Haus ins offene WLAN-Netz einloggen und seine Playlist laufen lassen. Im großen, offenen Innenraum gibt es Bücherregale, Werktische und eine Bühne.
Doch die Zeiten im Tal haben sich geändert. Andere Themen als zuvor stehen heutzutage für junge Menschen im Vordergrund. »Heute streben Jugendliche danach, einen SUV zu fahren und eine hübsche Freundin zu haben. Und alle glauben, dass sie das erreichen können, indem sie in den Drogenhandel einsteigen[3]«, seufzt Gamboa. Vor allem im Norden Mexikos kopieren Jugendliche und Erwachsene die Mode und kulturelle Ausdrucksweise der Narcos, in Musikvideos und sozialen Medien wird ihr Leben in Luxus und Gefahr gepriesen. Der einstige »Amerikanische Traum«, durch harte Arbeit im Nachbarland etwas Eigenes aufzubauen, ist dagegen verblasst.
»Die Jugendlichen sehnen sich nach einem Instagram-tauglichen Leben«, erzählt González. »Nach sagenhaften Momenten, exzentrischen Besitztümern, nach einem Starbucks-Kaffee.« Da sie sich selbst in einer nach materiellen Gütern strebenden Umgebung wertlos fühlten, würden sie nur zu leicht zum Spielball der Drogenkartelle. »Auch wenn sie nicht mit vorgehaltener Waffe in den Drogenhandel gezwungen werden, ist es nicht ihre Schuld, wenn ihr gesamtes Umfeld und die Kultur ihnen diesen Weg vorgibt. Wir wollen, dass junge Menschen das Gesamtbild verstehen, um die Illusionen, denen sie hinterherlaufen, zu durchschauen.«
Die Idee des »Okuvaj« sei es, junge Menschen durch Kunst zu erreichen, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihre Geschichte neu zu schreiben, alternative Sichtweisen anzunehmen und Lebenswege abseits des Drogenhandels zu entdecken. »Das können wir so öffentlich schwer sagen, aber das ist unser Ziel«, erklärt Mono. Jugendliche probieren sich hier im Fotografieren, Rappen und in Fotostickereien aus – alles, was ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich selbst auszudrücken.
So wie an diesem vorweihnachtlichen Sonntagnachmittag. An den Werktischen im großen Raum des Jugendtreffs sitzen zwei Handvoll Jugendliche unterschiedlichen Alters. Ihre Gesichter sind kaum zu sehen unter Käppis und Kapuzenpullis. Es ist mucksmäuschenstill, wenn sie ihre Hände eifrig in Kleister tunken, um Animefiguren aus Pappmaché herzustellen. Nur im hinteren Trakt des Okuvaj herrscht Gejohle. Im mit Eierkartons schalldicht gemachten Proberaum versucht sich eine Gruppe Jungs und zwei Mädchen in Rap und Beatbox am offenen Mikrofon.
Es gibt einen großen Bedarf an Jugendarbeit in der Region. Der mexikanische Bundesstaat Chihuahua, in dem das Juáreztal liegt, führt viele traurige Listen im Land an: Hier gibt es die meisten Selbstmorde, und die Zahlen von Missbrauch und Gewalt in den Familien sind horrend. Da wird die Schule auch mal zum sicheren Rückzugsort. In ihrer Schulzeit hatte Georgina die Gruppe »Jugend mit Flügeln« gegründet, um unter Freunden über ihre Probleme sprechen zu können. Doch nach der Schule beging eine Freundin Selbstmord, und Georgina vergrub sich in ihr Studium. Irgendwann aber rief ihre ehemalige Schulpsychologin an und bat sie, das alte Projekt wieder aufzunehmen, da ihr mehrere Jugendliche mit schweren Depressionen aufgefallen seien. »Es war ein sehr intensives Erlebnis für mich, eine junge Frau, die lediglich gebeten wurde, andere mit Hilfsangeboten zu vernetzen. Aber wie sollte ich Ihnen erklären, dass die gesamte Schule unter Depressionen leidet?«
Georgina hat am 2. November, am Tag der Toten in Mexiko, mit den Jugendlichen im Okuvaj einen Altar aufgebaut. Sie war schockiert, wie viele Jugendliche ein Foto ihres Vaters mitbrachten. »Die meisten erzählten mir, dass Kartellangehörige sie vor ihren Augen zu Halbwaisen gemacht hätten.« Es waren die gleichen Jugendlichen, von denen die junge Lehrerin wusste, dass sie Drogen nehmen. »Die Jugendlichen gleiten in Süchte ab, um ihren Problemen für einen Moment zu entfliehen und sich gut zu fühlen und nicht mit ihrer Trauer, ihren Traumata konfrontiert zu sein.«
In Ciudad Juárez und anderen Städten[4], die direkt am Grenzzaun zu den USA liegen, sind viele Drogen im Umlauf. Marihuana, Crack und Lösungsmittel sind überall für wenig Geld zu haben. Doch Präventions- und Rehabilitationsangebote fehlen, um der Sucht gerade unter Minderjährigen entgegenzuwirken. »Die Stadtverwaltung steckt ihr gesamtes Geld in die öffentliche Sicherheit«, erklärt González. »Also greifen Polizeistreifen Jugendliche auf, um sie nach Drogen zu durchsuchen. Wenn sie etwas finden, bringen sie sie in die Wüste, verprügeln sie und lassen sie dort zurück.« Das sei der staatliche Lösungsansatz, sagt er und schüttelt den Kopf.
Als er die Türe des Okuvaj abschliesst, wird der Himmel schon dunkel. Die Scheinwerfer über der Mauer zu den USA tauchen den Osten des Tals in gelbes Licht. »Ich glaube, dass in Kunst und Kultur eine Magie liegt, um Regeln, Normen und Denkweisen zu sprengen und Türen zu neuen Perspektiven für diese Generationen zu öffnen.«