nd-aktuell.de / 15.12.2025 / Politik

Als der Terror nach Bondi kam

Der antisemitische Anschlag in Sydney erschüttert ganz Australien

Barbara Barkhausen, Sydney
Menschen trauern um die Opfer des Attentats am Bondi Beach in Sydney.
Menschen trauern um die Opfer des Attentats am Bondi Beach in Sydney.

Dort, wo an gewöhnlichen Tagen Surfer ihre Bretter schultern, Familien ihre Decken ausbreiten und Jogger barfuß durch den Sand laufen, herrscht an diesem Montagnachmittag eine ungewohnte Stille. Das Meer glitzert unter der Sonne, die immer wieder mal zwischen den Wolken durchsticht, eine frische Brise weht vom Pazifik herüber. Die Kulisse täuscht: Nichts ist wie sonst am Bondi Beach.

Rot-weißes Absperrband durchzieht den Park hinter dem Strand, dahinter Polizeifahrzeuge, schwer bewaffnete Beamte, Rettungswagen. Der angrenzende Park, in dem am Sonntagabend eine Chanukka-Feier stattfand, ist vollständig abgeriegelt. Mindestens 16 Menschen starben hier bei einem Terroranschlag[1] – mitten im australischen Hochsommer, eineinhalb Wochen vor Weihnachten.

Vater und Sohn als mutmaßliche Attentäter

Besonders verstörend sind die Details zu den mutmaßlichen Tätern. Nach Angaben der Polizei handelte es sich um einen 50-jährigen Mann und seinen 24-jährigen Sohn, dem bereits Verbindungen zur Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) vorgeworfen wurden. Der Vater ist unter den Toten – er wurde am Tatort von der Polizei erschossen, der Sohn liegt mit Verletzungen im Krankenhaus. Weitere Verdächtige werden nicht gesucht. Der Vater verfügte über eine gültige Waffenlizenz und besaß sechs registrierte Schusswaffen. Zudem fanden Ermittler zwei improvisierte Sprengsätze (IEDs), die funktionsfähig waren, jedoch nicht detonierten. Sie wurden sichergestellt und entschärft.

Der Anschlag wirft damit nicht nur Fragen nach extremistischer Ideologie auf, sondern auch nach staatlicher Kontrolle. Wie konnte ein lizenzierter Waffenbesitzer einen derart schweren Anschlag vorbereiten, ohne zuvor ins Visier der Sicherheitsbehörden zu geraten?

Zwischen Präsenz und Verwundbarkeit

Seit Sonnenaufgang kehren die ersten Anwohner zum Bondi Beach zurück. Einige joggen schweigend an der Wasserkante entlang, andere verharren, den Blick auf den Sand gerichtet. Zurückgeblieben sind stumme Zeugnisse der Panik: Taschen, Handtücher, Wasserflaschen, einzelne Schuhe. Gegenstände, die man nur dann zurücklässt, wenn Sekunden über Leben und Tod entscheiden. Der Wind verweht allmählich die Spuren, der Sand beginnt zu bedecken, was geschehen ist.

Premierminister Anthony Albanese[2] erschien am Morgen vor Ort. Er legte Blumen nieder, sprach von einer »absoluten Gräueltat« und kündigte den Einsatz aller verfügbaren Ressourcen an. Allein in Bondi waren am Montag 328 Polizisten im Einsatz. Landesweit wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, insbesondere an Gotteshäusern und Einrichtungen der jüdischen Gemeinde. Australien zeigt Präsenz – und zugleich eine neue Verwundbarkeit.

Bondi Beach verkörpert Freiheit, Lebensfreude und Unbeschwertheit – Werte, die Australien gerne für sich in Anspruch nimmt. An diesem Tag steht der Ort für Trauer und Entsetzen.

Der Anschlag trifft Australien an einem empfindlichen Punkt seines Selbstverständnisses. Nach dem Massaker von Port Arthur 1996, bei dem 35 Menschen getötet wurden, reagierte das Land mit beispielloser politischer Entschlossenheit. Eine konservative Regierung setzte sich gegen die Waffenlobby durch, verbot halbautomatische Waffen, verschärfte Lizenzauflagen und führte die Pflicht ein, einen »triftigen Grund« für den Waffenbesitz nachzuweisen. Eine landesweite Waffenamnestie ließ die Zahl der Schusswaffen drastisch sinken. Über Jahre galten diese Reformen als internationaler Goldstandard.

Doch dieses Bild ist brüchig geworden. Heute gibt es in Australien mehr als vier Millionen Schusswaffen – fast doppelt so viele wie 2001. Pro Woche gelangen mindestens 2000 neue Waffen legal in Privatbesitz, wie die australische Ausgabe des »Guardian« berichtete. Trotz Bevölkerungswachstums ist die Waffendichte pro Kopf inzwischen höher als unmittelbar nach Port Arthur.

Antisemitismus als gesellschaftliches Problem

Parallel zur Waffenfrage rückt Antisemitismus in den Mittelpunkt der Debatte. »Das ist der schlimmste Albtraum der jüdischen Gemeinde«, sagte Alex Ryvchin, Ko-Geschäftsführer des Exekutivrats des australischen Judentums (ECAJ), gegenüber Sky News. »Es hat sich lange unter der Oberfläche abgespielt, und jetzt ist es tatsächlich passiert.« Rabbiner Levi Wolff aus der Central Synagogue in Sydney sprach gegenüber Reportern von einem bitteren Gefühl der Unvermeidlichkeit: »Das Unvermeidliche ist nun geschehen.«

Die Zahlen stützen diese Einschätzung. In den zwölf Monaten bis Ende September registrierte der ECAJ 1654 antisemitische Vorfälle – etwa dreimal so viele wie in den Jahren vor dem Gaza-Krieg[3]. In einem aktuellen Bericht warnt der Dachverband, antisemitischer Rassismus habe die gesellschaftlichen Ränder verlassen und sei in der Mitte angekommen. Er spricht von einer »zunehmenden ideologischen Annäherung« zwischen Neonazis, Teilen der antiisraelischen Linken und Islamisten.

Für das genaue Gegenteil steht Bondi Beach: Der Strand ist weit mehr als ein Küstenabschnitt. Er verkörpert Freiheit, Lebensfreude und Unbeschwertheit – Werte, die Australien gerne für sich in Anspruch nimmt. An diesem Tag steht der Ort für Trauer und Entsetzen. Und für die schmerzhafte Einsicht, dass Terror selbst vor einem der berühmtesten Strände der Welt nicht haltmacht.

Die Nähe des Schreckens

Am Montagabend liegt Bondi beinahe menschenleer da. Kein Surfer kämpft um die letzte Welle nach Feierabend, wo sonst Dutzende im Wasser liegen. Vereinzelt gehen Spaziergänger über die Promenade, sie sprechen leise oder schweigen ganz. Es wirkt, als wollten sie dem Ort durch ihre bloße Anwesenheit seine Normalität zurückgeben.

Eine deutsche Einwanderin teilt in den sozialen Medien ihre Erschütterung: »Anfang des Jahres nahm ich an einer Einbürgerungszeremonie im Bondi Pavilion teil. Es war ein Tag voller Hoffnung, Stolz und einem starken Gemeinschaftsgefühl«, schrieb sie. Der gestrige gewaltsame Anschlag stehe nun in krassem Gegensatz zu dieser Erinnerung. Dieser Kontrast – zwischen dem Versprechen eines Neuanfangs und der Brutalität der Tat – ist es, der vielen hier den Atem nimmt.

»Surreale« Stimmung

In Gesprächen zeigt sich, wie nah das Geschehen gerückt ist. Beinahe jeder kennt jemanden, der am Sonntag hier war. Eine Mutter berichtet, ihr Sohn habe fliehen müssen. Eine andere erzählt, ihre Tochter habe zu diesem Zeitpunkt in Bondi gearbeitet und sei drei Stunden lang im Lockdown gewesen. Als sie sie am Abend abholte, sei der Strand »surreal« gewesen: Blaulicht, Sirenen, bewaffnete Polizisten – ein Ort, kaum wiederzuerkennen.

Bondi werde sich erholen, sagen viele hier. Der Strand werde wieder voll sein, die Surfer zurückkehren, das Lachen der Kinder den Sand füllen. Vielleicht. Doch an diesem Tag liegt über allem eine Erkenntnis, die sich nicht so leicht verwehen lässt: Selbst die offensten, sonnigsten Orte sind nicht mehr unantastbar. Und Sicherheit, so selbstverständlich sie hier lange schien, ist plötzlich zu etwas Zerbrechlichem geworden.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1196193.bondi-beach-australien-attentat-am-strand-in-sydney.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1164004.regierungswechsel-politisches-beben-in-australien.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194198.gaza-krieg-grossbritannien-kanada-und-australien-erkennen-staat-palaestina-an.html