Angehörige von Beschuldigten im sogenannten Budapest-Komplex[1] hatten am Sonntagnachmittag erneut zu einer Matinee in die Volksbühne in Berlin eingeladen. Das Motto: »StandHAFT – Demokratie braucht Antifaschismus«. Im Zentrum standen die Haftrealitäten der Beschuldigten. Mit Zerocalcare[2] war der bekannteste Comiczeichner Italiens auf dem Podium und stellte sein neues Werk »Im Nest der Schlangen« vor, während Schauspieler*innen Briefe und Gedichte von Gefangenen und Angehörigen lasen. Auch wenn der Fokus diesmal auf den übrigen Verdächtigen wegen mutmaßlicher Angriffe auf Neonazis in Budapest lag, blieb Maja T.[3] präsent – nicht zuletzt wegen Zerocalcares Comic.
Die 144-seitige Graphic Novel erzählt die Geschichte von Maja. Für die Recherche reiste Zerocalcare im Sommer nach Jena, traf Angehörige der im Budapestkomplex inhaftierten nonbinären Person und verknüpft dies mit der Geschichte rechter Gewalt in Deutschland. »Ich bin auf viele Fäden gestoßen, die von Jena und Maja T. nach Budapest und wieder zurück führten«, erzählt er. So zum Beispiel die Geschichte des rechten Terrors des NSU und seiner Unterstützer.
»Die Verbindungen und Kontinuitäten von Neonazigewalt und Morden der 1990er und 2000er Jahre mit in die Erzählung einzubeziehen, war mir für ein vollständigeres Bild wichtig«, sagt Zerocalcare. Und weiter: »Für uns in Italien ist Deutschland ein Aufarbeitungsweltmeister, was die faschistische Vergangenheit angeht. Wenn man dann solche Geschichten erfährt, stellt man das natürlich infrage.« In Italien erschien der Comic vor Kurzem als Sammelband mit der Geschichte von Ilaria Salis und landete sofort auf Platz eins der Bestsellerlisten. Fast zeitgleich verlegte der Letatlin-Verlag den Teil zu Maja T. auf Deutsch.
Die Geschichte von Ilaria Salis war bereits 2024 im selben Verlag unter dem Titel »Diese Nacht wird keine kurze sein« erschienen. Salis befand sich im Zusammenhang mit dem Budapest-Komplex in Ungarn in Untersuchungshaft und wurde freigelassen, nachdem sie für die italienische Linkspartei ins Europäische Parlament gewählt worden war.
Seit sich sieben Beschuldigte gestellt haben, bestimmt die Haft ihr Leben – doch »den« Haftalltag gibt es nicht. Lilli A., Schwester der inhaftierten Nele A., sprach von einer »Black Box Haft«: Kaum jemand wisse, wie es in Gefängnissen zugehe. Die Bedingungen unterschieden sich massiv zwischen den einzelnen Anstalten, Willkür sei Alltag. Ob man psychologische Hilfe bekommt, sei Glückssache.
Nele A., Moritz S. und Hanna S. gehe es zwar den Umständen entsprechend gut, berichteten Angehörige. Doch Gespräche seien eingeschränkt: Immer sitze ein*e Beamt*in des Landeskriminalamts dabei, Verfahrensinhalte seien tabu. Rede man doch darüber, werde das Gespräch abgebrochen. Gleichzeitig politisiere die Auseinandersetzung mit dem Haftsystem die Angehörigen zwangsläufig, sagt Matthias, Vater von Moritz S.
Christine Graebsch vom Strafvollzugsarchiv Dortmund beschrieb Haft als hochpolitischen Raum, geprägt von Entmachtung und Entrechtung. Missachtung gerichtlicher Entscheidungen, Isolation nach Selbstverletzungen und weit verbreitete Willkür zerstörten Vertrauen in den Rechtsstaat. Gefangene hätten kaum Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit ihren Taten. Repression produziere Hass statt »Resozialisierung«. Graebsch fordert, der Staat müsse seine eigenen Regeln ernst nehmen und effektiven Rechtsschutz gewährleisten. Öffentlichkeit und politische Unterstützung seien essenziell.
Antonia von der Behrens, Verteidigerin von Thomas J. im zweiten »Antifa-Ost-Verfahren« betont, dass in Dresden sieben sehr unterschiedliche Personen zu einer angeblichen »kriminellen Vereinigung« erklärt wurden. Eine Konstruktion, die Antifaschismus als staatsfeindlich markieren und Solidarität verhindern solle. Der Tatvorwurf »versuchter Mord« diene weniger der Aufklärung, sondern solle Distanzierung hervorrufen. In Dresden wolle die Verteidigung diese politische Inszenierung sichtbar machen.
Mirjam Herrmann von der Letzten Generation warnte ebenfalls vor Spaltungsversuchen. Auch gegen sie wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. In der JVA Chemnitz lernte sie Nele A. kennen. Dass Klimaaktivist*innen teils als »ungefährlich« gelten und daher nicht inhaftiert werden, während Antifaschistinnen monatelang in U-Haft sitzen, zeige die politische Selektivität staatlicher Eingriffe.
Herrmann kritisierte die aufgebauschten Bedrohungsszenarien, die im Zusammenhang mit Antifaschismus und Klimaaktivismus konstruiert würden, und warnte davor, sich entlang der »Gewaltfrage« spalten zu lassen. Entscheidend sei, dass der Staat immer mehr Spielraum bekomme, politische Gruppen zu kriminalisieren, zu marginalisieren und mundtot zu machen. Dagegen brauche es Zusammenhalt, kritisches Hinterfragen staatlicher Narrative und Diskussionen in der Mitte der Gesellschaft. Man müsse sich gegen Vorwürfe des »Terrorismus« oder »versuchten Mordes« wenden. Sonst werde es schwer, einer autoritären, möglicherweise faschistischen Entwicklung entgegenzuwirken.