Nach gut einem Jahr Amtszeit als mexikanische Präsidentin drehte Claudia Sheinbaum zum Jahresende[1] noch einmal so richtig auf. Ohne größeres Murren aus der Unternehmerschaft verkündete die Politikerin der linken Regierungspartei Morena die Erhöhung des Mindestlohns um 13 Prozent zum 1. Januar 2026. Mehr als acht Millionen Arbeitskräfte werden davon profitieren, und zwar deutlich, denn die Inflation wird voraussichtlich erstmals seit Jahren wieder unter vier Prozent liegen. Auch die schrittweise Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden brachte Sheinbaum in den mexikanischen Kongress ein.
Zudem erzwang die Präsidentin den für viele überfälligen Rücktritt des 86-jährigen Bundesstaatsanwalts Alejandro Gertz Manero. Der wegen seiner Reaktionsgeschwindigkeit oft mit einer Schildkröte verglichene Manero führte sein Amt intransparent, von persönlichen Interessen geleitet und ineffizient. Mithilfe ihrer klaren Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat setzte Sheinbaum innerhalb weniger Tage ihre als integer geltende Vertraute Ernestina Godoy als neue Bundesstaatsanwältin durch. Nun besteht die Chance auf eine Reform der Staatsanwaltschaften im Land. Deren unprofessionelle und oft willkürliche Arbeitsweise wird von Kritiker*innen als ein wesentlicher Schwachpunkt des mexikanischen Justizsystems angesehen.
Die international teilweise scharf kritisierte Justizreform vom Juni des Jahres, die eine Direktwahl der wichtigsten Richter*innen durch die Bevölkerung vorsieht, schlug in Mexiko selbst weniger hoher Wellen. Mit Hugo Aguilar hat auch das Verfassungsgericht einen neuen, erstmals indigenen Vorsitzenden. Aguilar hat eine Reihe finanzieller Privilegien der obersten Richter*innen abgeschafft, und die neun Richter*innen kürzten ihr Gehalt, sodass es das der Präsidentin nicht länger übersteigt.
Die Zustimmungswerte für Sheinbaum liegen mit konstant über 70 Prozent nach wie vor extrem hoch. Langsam, aber sicher löst die Präsidentin sich aus dem übermächtig scheinenden Schatten ihres Amtsvorgängers, Andrés Manuel López Obrador (AMLO), und drückt der mexikanischen Politik ihren Stempel auf.
Ihr geschickter, unaufgeregter Umgang mit Donald Trump verschafft Sheinbaum auch bei anderen politischen Kräften Achtung. Mehrfach konnte sie hohe US-Strafzölle in letzter Minute in einem Telefongespräch mit dem US-Präsidenten abwenden oder abschwächen. Schwerwiegende politische Fehler hat die Präsidentin bisher weder außen- noch innenpolitisch begangen.
Proteste von Landwirt*innen gegen die bestehenden Zugangsrechte zu Wasserressourcen nutzte die Präsidentin dazu, ein von ihr angestrebtes neues Wassergesetz durch das Abgeordnetenhaus zu bringen. Als vor wenigen Wochen extreme Regenfälle im Land mehrere Dutzend Tote forderten, Teile der Bundesstaaten Veracruz, Puebla und Hidalgo unter Wasser standen und Hunderte Gemeinden auf dem Landweg nicht mehr erreichbar waren, hielt sich Sheinbaum tagelang vor Ort auf, hörte sich die Kritik an den Behörden an und sicherte persönlich Hilfe zu.
Anfang November gelang es einem betrunkenen Mann, die Präsidentin bei einem Gang durch das Zentrum von Mexiko-Stadt von hinten anzugrapschen. Die Präsidentin stellte Strafanzeige, doch den Fokus legte sie auf eine Kampagne, die Gewalt gegen Frauen anprangert[2]. Damit solidarisierte sich ein Großteil der Bevölkerung.
Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) bestätigt, dass die Armut in der Region nirgendwo so schnell zurückgeht wie in Mexiko. Wirtschaft und Währung des Landes sind nach wie vor stabil. Nennenswertes Wachstum wird es dieses Jahr zwar nicht geben, doch die befürchtete Rezession aufgrund der US-Zölle ist ausgeblieben. Der Umfang der Ausfuhren in die USA steigt sogar weiter. Und die Auslandsinvestitionen überschritten bereits im September die für das gesamte Jahr angepeilte Schwelle von 40 Milliarden US-Dollar.
Im Sicherheitsbereich verkündet die Regierung einen Rückgang der Mordzahlen um mehr als 30 Prozent seit Sheinbaums Amtsantritt. Sollte dieser Trend einer statistischen Analyse standhalten und sich fortsetzen, wird das als einer der ganz großen Erfolge ihrer Regierung gefeiert werden. Das Ausmaß der Herausforderung verdeutlicht eine Zahl: Am 25. September 2025 gab es in Mexiko »nur« 37 Morde – die niedrigste Zahl für einen Tag, seit die Morena-Partei 2018 an die Macht kam. Mit der Bekämpfung der Drogenmafia und des organisierten Verbrechens steht und fällt zudem die politische Karriere des Sicherheitsministers und Sheinbaum-Protegés Omar García Harfuch. Die Präsidentin hat aber auch klargemacht, dass Brachialgewalt keine Lösung des komplexen Problems ist: »Wieder Krieg gegen die Drogenmafia zu führen, ist ein Schritt in Richtung Faschismus.«
Die Ausweitung der Sozialprogramme geht wie geplant zügig voran, Millionen Menschen profitieren davon. Bei den Steuereinnahmen verzeichnet die Regierung neue Rekorde aufgrund einer strengeren Erhebung und erster Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung in der Zollbehörde. Immer noch schulden Unternehmen der Steuerbehörde SAT mehr als eine Billion Pesos, umgerechnet etwa 50 Milliarden Euro. Das systematische Eintreiben, auch auf juristischem Weg, zahlt sich für den Staat aus.
Für die Regierung Sheinbaum hat dies den Vorteil, die Sozialprogramme bislang ohne Steuererhöhungen finanzieren zu können. Damit ist ein größerer Konflikt mit Mexikos nach wie vor bestens verdienenden Superreichen hinausgeschoben. Eine Ausnahme bildet nur der Fall des sich querstellenden Steuerschuldners Salinas Pliego. Der Unternehmer und Medienzar, ein Fan von Argentiniens Präsident Javier Milei und El Salvadors autoritärem Machthaber Nayib Bukele, scheint den auf die politische Ebene ausgeweiteten Machtkampf mit Gerichten und Regierung um die Bezahlung seiner milliardenschweren Steuerschulden jedoch zu verlieren. Dennoch gilt Pliego als möglicher Präsidentschaftskandidat der rechten und rechtsextremen Kräfte für 2030.
Sonderlich beliebt ist der Unternehmer aber nicht. Ein anderer möglicher rechtsextremer Kandidat, der ehemalige Schauspieler Eduardo Verástegui, verspielte zuletzt Trumps Vertrauen durch seine Kritik an Milei. In der inzwischen von progressivem Gedankengut und Befreiungstheologen vollständig geläuterten mexikanischen Bischofskonferenz wird zwar der Rückhalt für erzkonservative Strömungen nicht mehr verschleiert, doch der direkte Einfluss der Kirche auf die immer noch mehrheitlich katholische Bevölkerung schwindet.
Die rechtskonservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) kündigte nach ihrer deutlichen Wahlniederlage bei der Präsidentschaftswahl jüngst einen Neustart an. Doch die Grußbotschaften des ehemaligen umstrittenen Leiters der mexikanischen Wahlbehörde, des spanischen Ex-Ministerpräsidenten José María Aznar und des Vorsitzenden der Mexikanischen Bischofskonferenz erzeugten keine Aufbruchstimmung. Die bis 2018 regierende und schon in den 80er Jahren neoliberal gewendete Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) spielt kaum noch eine Rolle, und die Bürgerbewegung (MC) steht in vielen Fragen der Regierung näher als der Opposition.
Der Versuch der Rechten, die auch in Mexiko teilweise politikverdrossene Generation Z für ihre Zwecke zu mobilisieren, scheiterte Mitte November krachend. Die Beteiligung an einem Demonstrationszug gegen die Regierung war – verglichen mit der Mobilisierungskapazität der Sheinbaum-Regierung – überaus gering. Lediglich 20 000 Menschen nahmen teil, viele davon eher Eltern und Großeltern der Generation Z. Auch dass die Rechte versuchte, die weitverbreitete Empörung über den – wahrscheinlich von der Drogenmafia in Auftrag gegebenen – Mord an dem parteiunabhängigen Bürgermeister Carlos Manzo im Bundesstaat Michoacán für sich auszunutzen, trug ihr keine Sympathien ein.
Die derzeitigen Machtverhältnisse stellte Präsidentin Sheinbaum am 7. Dezember ein weiteres Mal klar, als sie vor dem Regierungspalast anlässlich von sieben Jahren Morena-Regierung mehrere Hunderttausend Menschen mobilisierte.
Trotz der Schwäche der Opposition kann die mexikanische Regierung sich keineswegs in Sicherheit wiegen. Zu sehr ist die innere Stabilität externen Einflüssen ausgesetzt. Ob der US-Präsident den Freihandelsvertrag mit Mexiko und Kanada im kommenden Jahr neu verhandeln oder komplett kippen will, ist völlig offen. Die Entwicklung des mexikanischen Binnenmarktes kommt kaum voran, und von einer Handelsdiversifizierung ist Mexiko immer noch weit entfernt. Die eigene mittelständische Landwirtschaft wurde dem Freihandel geopfert, die Stimmung auf dem Land gärt. Und weil die Megaprojekte des Vorgängers AMLO weitgehend abgeschlossen sind, verzeichnen die Infrastrukturausgaben einen Einbruch.
Die mexikanische Stromproduktion hängt, auch aufgrund fehlender eigener Speicherkapazitäten, fast vollständig von US-Gaslieferungen ab. Das macht die Regierung hochgradig erpressbar. Trump droht weiterhin mit direkten militärischen Interventionen gegen die Drogenmafia in Mexiko; Gerüchte über verdeckte Geheimdienstaktionen von US-Soldaten in Mexiko sowie mögliche Drohnenangriffe reißen nicht ab. Massendeportationen von Mexikaner*innen aus den USA sind bisher zwar ausgeblieben, aber keineswegs vom Tisch. Mexiko kann sich nur begrenzt darauf vorbereiten.
Mit der Anfang Dezember von den USA verabschiedeten Nationalen Sicherheitsstrategie zeichnen sich weitere Konfliktpunkte ab. Unter Trump lassen die USA die 200 Jahre alte Monroe-Doktrin aufleben. Darin wird Lateinamerika als Hinterhof angesehen, in dem andere internationale Akteure nichts zu suchen haben. Das richtet sich derzeit in erster Linie gegen China, einen wichtigen Handelspartner Mexikos. Die Doktrin stellt aber auch Mexikos »historische Unterstützung« (Sheinbaum) der kubanischen Revolution infrage.
Eines ist sicher: Das Foto der lachenden Präsidentin Sheinbaum mit dem ebenfalls gut gelaunten Trump und dem kanadischen Präsidenten Mark Carney bei der peinlichen Gruppenauslosung für die Fußballweltmeisterschaft 2026 führt in die Irre. Denn die außenpolitischen Herausforderungen dürften im kommenden Jahr noch größer werden und können die Innenpolitik jederzeit massiv beeinflussen. Fest steht aber auch, dass die mexikanische Präsidentin, nicht zuletzt aufgrund der großen Unterstützung im Land, darauf vorbereitet sein wird.
Gerold Schmidt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1196229.lateinamerika-sheinbaum-mit-gutem-start-in-mexiko.html