Wolodymyr Selenskyj verhandelt mit den USA über die Zukunft der Ukraine[1] und scheint dafür Rückhalt aus der Ukraine zu bekommen. Drei Viertel aller Befragten einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie geben an, Russlands Forderungen nach Gebietsabtretungen, den Verzicht auf Sicherheitsgarantien oder Obergrenzen für die ukrainische Armee nicht akzeptieren zu wollen. Und zwei Drittel aller Befragten (63 Prozent) zeigen sich bereit, den Krieg so zu lange zu unterstützen[2], wie es notwendig sei.
Serhij Jahodsinskij, Prorektor der Europäischen Universität in Kiew, findet die Zahlen nicht so überzeugend. Seiner Auffassung nach sind am Telefon durchgeführte Umfragen, bei der 550 Personen befragt worden sind, nicht repräsentativ. »Wenn ich von jemandem Unbekannten angerufen würde, der sich als Soziologe vorstellt und mir sagt, dass er eine Umfrage macht und wissen wolle, ob ich für die Abtretung von Territorium bin, wäre ich sehr vorsichtig. Ich will mich ja nicht strafbar machen«, so Jahodsinskij in einer Talkshow des Fernsehsenders Novyny Live.
Wie die Menschen wirklich über den Krieg denken, ist in einem Land, in dem Kriegsrecht herrscht, schwer festzustellen. Umfragen verlieren ihre gewohnte Aussagekraft. Doch im persönlichen Gespräch kann man zumindest einen fragmentarischen Einblick bekommen.
Ein Taxifahrer aus Charkiw beispielsweise glaubt nicht, dass es bald zu einem Frieden kommt. »Dazu sind Russen und Ukrainer viel zu stur. Keiner will nachgeben.« Stanislaw aus Charkiw ist Pessimist: »Über alles kann man reden, nur nicht über Gebietsabtretungen«, sagt der Offizier zu »nd«. Insgesamt verfolgt er mit Sorge, wie die Russen vorrücken[3]. »Aber große Städte wie Charkiw oder Saporischschja werden sie nicht einnehmen. Da müssten sie schon 500 000 Mann herschicken.« Auf die Frage, ob er Licht am Ende des Tunnels sieht, kommt ein kurzes »Nein«. Und dann schiebt er hinterher: »Ehrlich gesagt und unter uns: Ich hätte auch nichts gegen Gebietsabtretungen. Aber die anderen Offiziere in meiner Einheit sind da ganz anderer Meinung.«
Weniger kompromissbereit zeigt sich sein Kollege, ebenfalls Offizier in Charkiw[4]: »Ich habe einen Freund, der wie ein Bruder für mich war, an der Front verloren. Wenn Selenskyj den Russen Territorium schenkt, werde ich ihn umbringen.«
Ähnlich äußert sich ein anderer Militär: Andrej Ischtschenko aus Odessa. Vor dem Krieg war er linker Gewerkschaftsaktivist, führte Reisegruppen an die Orte von Odessa, an denen Leo Trotzki seine Jugend verbracht hatte. Er schreibt auf seiner Facebook-Seite: »Feind Nummer 1 von Odessa[5] sind jetzt dieser verdammte Putin und die, die ihn all die Jahre unterstützt haben. Auf euch warten ganz real Hinrichtungen!«
Während die ganze Ukraine diese Tage voller Sorge und Mitgefühl nach Odessa sieht, das nach Luftangriffen am Wochenende mehrere Tage ohne Strom und Wasser war und das sich nur langsam von diesem Schlag erholt, versucht man vor Ort gelassen mit dieser Situation umzugehen. »Wir haben nicht die Zeit und die Kraft, lange zu klagen« erklärt der 23-jährige Grischa »nd«. »Jeder schaut, dass er die Dinge geregelt bekommt, die auch sonst zu leisten sind: die Kinder versorgen, arbeiten und trotz allem Freude am Leben haben.«
Genau das macht Karina. Die 40-jährige sucht Clubs auf, wo Live-Musik gespielt wird. »Ich stehe nur noch auf Dur-Musik«, sagt sie. »Molltöne habe ich schon genug in meinem Leben.«
In sozialen Netzwerken werden zahlreiche Videos veröffentlicht, die zeigen, wie der Alltag ohne Strom organisiert wird. Mit Mänteln sitzen die Odessiten in ihren Wohnungen, kochen auf Campingkochern und erhitzen Ziegelsteine, um sie als Wärmespeicher zu nutzen. Vor den Geschäften, die Ladegeräte haben, bilden sich Schlangen, Autofahrer laden Powerbanks in ihren Fahrzeugen auf, die mit laufendem Motor auf der Straße stehen.
Karina ist frohen Mutes. Eigentlich hat sie gar keinen Grund dazu. Am Wochenende hörte sie ständig Drohnen, seit einem Tag sitzt sie im Dunkeln und Wasser muss sie sich holen. »Ich kenne mich da nicht so gut aus in der Politik«, sagt sie. »Diese ganzen Vorschläge. Ich weiß nicht, welcher der beste ist. Würde mich einfach nur freuen, wenn das mit den Drohnen über meinem Dach endlich aufhören würde.« Jetzt kocht sie erst mal Borschtsch. Viel Borschtsch. »Das muss reichen für eine Woche«.