Das türkische Kulturministerium präsentierte im Herbst 2014 einen Roman stolz auf der Frankfurter Buchmesse – neun Jahre später war er verboten. Der Roman heißt »Rüyasin Bölünenler«, verfasst vom kurdischen Schriftsteller Yavuz Ekinci. Im März 2023 wurde das Buch in der Türkei beschlagnahmt, seit dem Herbst 2023 wird Ekinci deswegen juristisch verfolgt. Die Anklage lautet: »Terrorpropaganda«. Nun ist der Roman bei uns erschienen, der Titel: »Die, deren Träume zerbrochen sind«.
Im Dezember vergangenen Jahres erklärte Yavuz Ekinci selbstbewusst vor Gericht, sein Roman sei seine Verteidigung, und er führte aus: »Ein Roman ist eine Fiktion. Ein Prozess, der gegen die Figurenwelt eines fiktionalen Werks angestrengt wird, ist etwas Abstraktes. Jenes Universum gerichtlich zu verbieten, ist etwas Politisches. Wegen seiner Figuren und ihrer Worte einen Künstler zu verurteilen, ist eine Beleidigung der Kunst als solcher.« Im Anhang zum Roman hat der Kunstmann-Verlag diese Erklärung abgedruckt.
Guerillakämpfer sind verscharrt worden, die Staatsanwaltschaft leugnet es. Doch die Leute im Dorf wissen Bescheid.
Ismail ist die Ich-Figur, ein hilfloser, verängstigter, heimatloser Akademiker. Seit 18 Jahren lebt er im Exil in Deutschland, doch seine Heimat und seine Familie lassen ihn nicht los. Der Bruder Yusuf hatte sich einst als Guerillakämpfer in die Berge geschlagen, der Fluch des Vaters traf Ismail, er wurde aus der Familie ausgestoßen und im September 1993 in die Fremde getrieben.
18 Jahre später erfährt Ismail, sein Vater liege im Sterben. Der Sohn reist in sein Heimatdorf. Erneut wird er vom Vater abgewiesen. Schließlich begibt er sich auf die Suche nach seinem Bruder in den Bergen. Es wird zu einer Irrfahrt durch die Tragödien eines zerrissenen Landes.
Ismail erlebt, wie die Türkei zum Überwachungsstaat verkommen ist. Angst und Terror herrschen, es ist die Zeit vor den Gezi-Protesten von 2013. Die Geheimpolizei hat ein dichtes Agentennetz errichtet, Paranoia plagt Ismail. Und im Kriegsgebiet: verbrannte Erde. Grauen, Gewalt, Unmenschlichkeit. Rache und Vernichtungswille in den Köpfen von Männern. Massengräber. Und dröhnendes Schweigen. Trauernde und Davongekommene suchen nach Spuren von Verbrechen.
Guerillakämpfer sind verscharrt worden, die Staatsanwaltschaft leugnet es. Doch die Leute im Dorf wissen Bescheid. Sie haben gesehen, wie Leichen geschändet wurden, sie haben gesehen, wie Soldaten Erinnerungsfotos machten, sie haben gesehen, wie die Leichen in die Grube geworfen wurden.
Yavuz Ekinci hat einen Roman über das Leid der verfolgten Kurden verfasst. Es ist eine leise, sehr eindringliche Anklage aus Sicht von Opfern und Davongekommenen, warmherzig und schmerzhaft. Die Stärke des Romans liegt im Erzählerischen, es gibt wenige Dialoge.
»Josef und seine Brüder«, eine Erzählung aus der hebräischen Bibel, liege dem Roman zugrunde, schreibt Ekinci. Thomas Mann hatte diese Geschichte einst im Exil aufgegriffen und eine Tetralogie verfasst; der türkische Dichter und Dramatiker Nazim Hikmet schuf aus dem Stoff 1948 ein Schauspiel. In diese Tradition verfolgter Schriftsteller stellt sich Ekinci.
»Soll dieser Beschluss dafür sorgen, dass auch die Protagonisten des Buches verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden?«, fragte Ekinci in der ersten Verhandlung vor Gericht, im September 2024. »Auch wenn sich sämtliche Polizisten der Welt zusammentun sollten, so könnten sie doch keinen einzigen Romanhelden einsperren. Die Helden des Romans sind unsterblich, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg.«
Sechs Romane, drei Erzählbände und ein Kinderbuch hat der 46-jährige Yavuz Ekinci mittlerweile in der Türkei veröffentlicht, drei Romane hat der Kunstmann-Verlag bereits auf Deutsche veröffentlicht. Gerhard Meier, der überragende Übersetzer aus dem Türkischen, hat »Die, deren Träume zerbrochen sind« ins Deutsche übertragen. Und kürzlich kam endlich die Meldung aus Istanbul, Ekinci sei frei, frei von juristischer Verfolgung.
»Gestern hatte ich meine fünfte Gerichtsverhandlung«, berichtet der Schriftsteller. »Das Gericht hat die Klage wegen Verjährung abgewiesen. Damit ist der Fall abgeschlossen. Ich bin so erleichtert. Ich habe gewonnen! Ich bin überglücklich. Es war gut, Widerstand zu leisten. Mein Roman ist in der Türkei immer noch verboten, deshalb warte ich auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Ich kann sagen, die schwierigen Tage sind vorbei. Und ich habe immer gesagt, ich wolle kein Schriftsteller im Exil sein. Daran habe ich mich gestern erinnert. Wie gut, dass ich nicht geflohen bin, sondern vor Gericht Widerstand geleistet und meine Verteidigung vorgetragen habe.«
Die Literatur hat einen Sieg errungen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1196263.kurdistan-yavuz-ekinci-verboten-verjaehrt.html