Amnesty International kritisiert, dass die Bundespolizei[1] in der von der Regierung geplanten Änderung des Bundespolizeigesetzes mehr Befugnisse erhalten soll. Warum?
Einige der neuen Kompetenzen, die die Bundespolizei[2] erhalten soll, halten wir für grundsätzlich menschenrechtlich problematisch. Dazu gehören zum Beispiel die Möglichkeit des Präventivgewahrsams ohne verpflichtenden Rechtsbeistand oder die Ausweitung von anlasslosen Personenkontrollen. Letztere führen zu mehr Kontrollen aufgrund des Aussehens, also Racial Profiling[3]. Sie sind außerdem spektakulär wirkungslos mit Erfolgsquoten im Promillebereich. Anstatt sie auszuweiten, sollte die Bundesregierung eine solche Praxis abschaffen. Insgesamt gibt es im Gesetz eine deutliche Schieflage. Die Polizei darf immer intensiver kontrollieren und überwachen. Aber ihr eigenes Handeln wird immer weniger kontrollier- und überwachbar. Maßnahmen der Transparenz und Rechenschaftspflicht fehlen für die Polizei, zum Beispiel durch die Kennzeichnungspflicht oder dadurch, dass Beamte Bodycams auf Verlangen oder bei Zwangsmaßnahmen einschalten müssten. Diese Instrumente waren im Entwurf der Ampel-Regierung, die das Bundespolizeigesetz auch reformieren wollte, noch vorgesehen. Die schwarz-rote Bundesregierung hat sie nicht einfach übersehen – sie hat die bewusste Entscheidung getroffen, sie zu streichen.
Amnesty spricht von der »Gefahr einer schleichenden Normalisierung schwerwiegender Grundrechtseingriffe«. Was ist damit gemeint?
Derzeit werden bundesweit Polizeigesetze neu geschrieben. Jüngere Reformen der Länder ermöglichen biometrische Gesichtserkennung auf der Straße und im Internet sowie die automatisierte und massenhafte Analyse persönlicher Daten. Schwerwiegende Grundrechtseingriffe werden dadurch in den letzten Jahren zum neuen Normalzustand. Erfahrungsgemäß lässt die Regierung einmal eingeführte Befugnisse nicht unabhängig auf ihre gesellschaftlichen Folgen überprüfen. Sie nimmt sie auch nicht wieder zurück, sondern weitet sie eher aus.
Handelt es sich um einen autoritären Umbau des Staates?
Was wir auf jeden Fall sagen können, ist: Die Politik versucht primär, innere Sicherheit über immer mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden zu erreichen. Das führt zu einer stetig stärker kontrollierten und überwachten Gesellschaft. Es kann Menschen einschüchtern und davon abhalten, ihre Grundrechte auszuüben. Die Wissenschaft nennt das Chilling Effects. Es gibt zum Beispiel Studien, die zeigen, dass gerade People of Color angeben, dass sie sich an bestimmten Orten mit Videoüberwachung nicht mehr so sicher fühlen. Auch zu befürchten ist, dass Menschen davon absehen, in der Öffentlichkeit ihre Meinung beispielsweise auf Demonstrationen auszudrücken, wenn sie wissen, dass sie dabei Überwachungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Das sind langfristige negative Folgen für die Gesellschaft.
Amnesty empfiehlt, auf eine Befugnis zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) im Bundespolizeigesetz gänzlich zu verzichten. Schränkt das nicht die Möglichkeiten zur Verfolgung von Menschenhändlern und Gruppen aus, die Kinder sexuell misshandeln?
Wenn der Staat ins Handy einbricht, ist das ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff. Für die Installation dieser Überwachungstechnologien muss die Polizei außerdem Schwachstellen im IT-System identifizieren und nutzen. Das führt zu einem Zielkonflikt. Der Staat will einerseits die Überwachungstechnologie installieren und braucht dafür Sicherheitslücken. Andererseits hat er eine Schutzpflicht für unsere IT-Sicherheit. Wenn staatlichen Behörden Schwachstellen in IT-Systemen bekannt sind, müssten sie diese den Herstellern eigentlich melden. Dazu fehlen aber verbindliche Regeln. Es gibt auch keine Transparenz darüber, welche Software von welchen Anbietern die Polizei einsetzt, sodass nicht überprüft werden kann, ob diese Software grundrechtlichen Standards genügt. Und auch, welche Märkte das vielleicht befeuert. Es gibt Trojaner, die von Unternehmen angeboten werden, die weltweit in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind.
In welche Beziehung setzen Sie den Gesetzentwurf mit anderen politischen Entwicklungen, zum Beispiel der verschärften Migrationspolitik?
Wir beobachten, dass Menschen auf der Flucht schon seit Jahren zunehmend als Sicherheitsrisiko dargestellt werden. Das legitimiert eine Sicherheitspolitik, die zu rassistischer Diskriminierung führt. Umgekehrt werden mit irreführenden Darstellungen wie in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) immer unmenschlichere Maßnahmen in der Migrationspolitik gerechtfertigt. Die PKS erfasst Tatverdächtige, aber nicht verurteilte Personen. Menschen mit Migrationshintergrund geraten schneller unter Verdacht. Bei den NSU-Morden ermittelte die Polizei lange im Umfeld der Opfer, statt rechtsextreme Gruppen in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig dürften migrantische Menschen, die von rassistischer Gewalt häufig betroffen sind, in der Statistik als Opfer unterrepräsentiert sein, weil sie seltener Anzeige erstatten. Die Kriminalitätsstatistik führt auch nichtdeutsche Tatverdächtige als eigene Gruppe. Auf den ersten Blick sieht es dann so aus, als seien die häufiger kriminell. Erst wenn man zusätzliche Informationen von Forscher*innen heranzieht, zeigt sich, dass das nicht stimmt. Mehr Migration führt nicht zu mehr Kriminalität.
Amnesty wirft der Polizei »strukturellen Rassismus« vor. Gleichzeitig fordern Sie »eine ernsthafte und wirkungsvolle Einbeziehung von betroffenen Communities« bei der Modernisierung des Gesetzes. Würde das die Bundespolizei weniger rassistisch machen?
Amnesty versteht unter strukturellem Rassismus keine individuelle Gesinnung einzelner, sondern institutionelle Muster wie etwa eine diskriminierende Kontrollpraxis. Die Einbeziehung von Communities kann präventiv und korrektiv wirken, aber nur, wenn der Gesetzgeber ernsthaft gewillt ist, diese Stimmen anzuhören und bereit für Konsequenzen ist. Gleichzeitig ist das kein Allheilmittel. Es braucht auf jeden Fall flankierende Maßnahmen, klare gesetzliche Grenzen polizeilichen Handelns, effektive Beschwerdestrukturen und eine unabhängige Kontrolle. Grundsätzlich sind Menschen, die von polizeilichem Handeln stark betroffen sind, in Entscheidungsforen unterrepräsentiert. Da muss man sich nur mal ein Foto von der Innenminister*innenkonferenz angucken. Es gibt in der Innenpolitik kaum People of Color, es gibt weniger Frauen als Männer, es gibt äußerst selten Menschen mit Fluchterfahrung.
Wie hilfreich ist es, an einen Rechtsstaat zu appellieren, wenn genau dieser Staat potenziell Menschenrechte beschneidet?
Der Rechtsstaat hält die Instrumente bereit, Menschenrechte zu schützen. Das sehen wir zum Beispiel, wenn erfolgreiche Klagen vor Gerichten dazu führen, dass Aufnahmezusagen gegenüber Menschen auf der Flucht eingehalten oder verfassungswidrige Gesetze korrigiert werden. Am Ende ist es natürlich auch unser Versuch, eine öffentliche Debatte zu beeinflussen, bei der wir merken, dass sie immer repressiver und härter wird.
Die Polizei soll für mehr Sicherheit und Ordnung sorgen. Kritiker*innen sagen, durch einen Ausbau der Polizei wird das nicht erreicht. Was wären politische Maßnahmen, die tatsächlich zu mehr Sicherheit führen würden?
Für eine nachhaltig sichere Gesellschaft müssten wir in Prävention investieren und denjenigen zuhören, die verhindern, dass ein Nährboden für Gewalt entsteht. Das sind zum Beispiel Sozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen oder Menschen, die sich lokal gegen rassistische Gewalt engagieren. Zudem brauchen wir ein Sozial- und Gesundheitssystem, das sicherstellt, dass alle Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu psychologischen Hilfen, zu bezahlbarem Wohnraum und Unterstützung bei Suchtproblemen erhalten. Zusammenfassend könnte man sagen: Innere Sicherheit muss soziale Sicherheit einschließen, und zwar für alle Menschen. Und nicht zuletzt auch die Sicherheit umfassen, nicht Opfer von Polizeigewalt oder Racial Profiling zu werden. Das ist ein Aspekt, den der Staat vergleichsweise einfach in der Hand hätte – und wo er gerade mit diesem Gesetzesentwurf viel zu kurz greift.