nd-aktuell.de / 17.12.2025 / Politik

»Die Zerstörung wird zunehmen«

Das EU-Mercosur-Handelsabkommen könnte die Lebenswelt der indigenen Gemeinschaften akut gefährden, warnt der Soziologe Jan Königshausen

Interview: Melanie M. Klimmer
Illegale Bergbaugebiete verwüsten die Amazonasregion – wie hier auf dem Territorium der Kayapó im brasilianischen Bundesstaat Pará.
Illegale Bergbaugebiete verwüsten die Amazonasregion – wie hier auf dem Territorium der Kayapó im brasilianischen Bundesstaat Pará.

Die Verfassungen der Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay enthalten umfangreiche Umwelt- und Menschenrechtsschutzgarantien. Wie steht es um deren tatsächliche Umsetzung?

Solche Schutzstandards werden in der Praxis leider oft untergraben. Besonders in Argentinien und Paraguay spüren indigene Gemeinschaften immer stärker den Druck – von wirtschaftlichen, politischen und medialen Interessen gleichermaßen. Schon 2015 rügte der UN-Ausschuss gegen Rassendiskriminierun[1]g Paraguay, weil indigene Territorien nicht anerkannt und ganze Gemeinden gewaltsam vertrieben wurden. Hinzu kommen eine seit Jahren verfolgte agrarindustrielle Wachstumsstrategie sowie politische, rechts-autoritäre Entwicklungen, die die Konflikte weiter verschärfen.

Brasilien präsentierte sich auf der Weltklimakonferenz in Belém als Verteidiger indigener Rechte. Wie ist die Situation dort?

Brasilien stellt sich gern als ein Land dar, in dem indigene Rechte geachtet werden. Trotzdem greifen viele Schutzmechanismen nur unzureichend. In Belém wurde groß angekündigt, dass zehn weitere indigene Territorien anerkannt werden. Doch diese Gebiete stehen nach wie vor stark unter Druck – durch die wachsende internationale Nachfrage nach Rindfleisch, Soja, Zuckerrohr und Mineralien.

Was berichten Ihnen indigene Gemeinschaften aus den Mercosur-Staaten?

Die Betroffenen sprechen offen von einer Fortsetzung kolonialer Muster: Wasser wird als kostenlose Ressource für Exportprojekte betrachtet. Lokale Gemeinschaften und indigene Völker werden bei solchen Projekten oft weder ausreichend informiert noch systematisch beteiligt. Energiepartnerschaften, Wasserstoff-Roadmaps und Investitionsschutz verstärken genau die wirtschaftlichen Dynamiken, die lokale Beteiligungsrechte faktisch aushebeln, statt sie zu stärken. Die Missachtung indigener Rechte ist schon jetzt ein massives Problem – und durch das EU-Mercosur-Abkommen droht sich diese Entwicklung noch zu verschärfen.

Haben Sie ein Beispiel dafür, wie lokale Gemeinschaften unter Druck geraten?

Deutlich wird das an der Situation der Mapuche im Süden Argentiniens. Auf dem Papier gibt es zwar akzeptable Schutzgarantien, doch die Praxis zeigt große Lücken: Die Mapuche-Gemeinschaften berichten seit Jahren von Kriminalisierung, unrechtmäßigen Räumungen und gewaltsamen Polizeieinsätzen in Regionen mit Bergbau- und Energieprojekten. Trotz eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, das ihre Rechte stärken sollte, hat sich die Lage nicht verbessert. Auch in den nördlichen Bundesstaaten Salta, Jujuy und Chaco führen Bergbau und exzessive Landwirtschaft immer wieder zu Konflikten mit indigenen Gemeinschaften. Ein weiteres Beispiel ist die Provinz Neuquén, wo indigene Gemeinschaften gegen die Verschmutzung eines Sees kämpfen, der die gesamte Region mit Trinkwasser versorgt.

In den Mercosur-Staaten leben viele Indigene Völker in freiwilliger Isolation. Welche Folgen hat das Abkommen für sie?

Allein im Amazonasgebiet Brasiliens leben mindestens 100 indigene Völker in Isolation. Sie gehören zu den verletzlichsten Gemeinschaften der Erde, weil sie auf intakte Flüsse, Wälder und Ökosysteme angewiesen sind. Auch wenn ihre Territorien besonderen Schutz genießen, dringen Straßenbau, illegale Holzfäller, Plantagen, Viehweiden, Bergbau und Energie-Infrastruktur immer weiter in ihre Gebiete vor und gefährden ihre Lebensweise. Für die Menschen dort bedeutet jeder Eingriff, jedes Auftauchen externer Akteur*innen Lebensgefahr. Mitgebrachte Krankheiten, bestehende kulturelle Traumata und der erzwungene Kontakt können binnen weniger Jahre ganze Gemeinschaften zum Zusammenbruch bringen. Im Gran Chaco, einem der artenreichsten und zugleich gefährdetsten Trockengebiete der Welt, das sich über Teile Argentiniens, Boliviens, Brasiliens und Paraguays erstreckt, schreitet die Entwaldung noch schneller voran – und bedroht auch dort zahlreiche isolierte Gemeinschaften der Ayoreo.

Welche Interessen verfolgt Deutschland mit dem Abkommen?

Deutschland setzt auf Rohstoffsicherung und die Diversifizierung von Lieferketten; beim Import vor allem auf landwirtschaftliche Güter und beim Export auf Chemikalien und Pestizide aus der EU. Außerdem betrachtet die Bundesregierung den Aufbau neuer Energiepartnerschaften als geopolitisch notwendig. Das EU-Mercosur-Abkommen gilt daher als strategisch wichtiges Instrument für »grüne« Zukunftsindustrien, die auf Wasserstoff, Lithium oder kritische Minerale angewiesen sind. Konzernen wird dabei ein weitreichender Bürokratieabbau in Aussicht gestellt, während menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltspflichten verhandelbar werden. So entsteht eine supranationale Grauzone, in der die wirtschaftliche Entwicklung systematisch über Grundrechte und rechtsstaatliche Verantwortung gestellt wird.

Sind die Auswirkungen dieser Politik schon jetzt zu sehen?

Die negativen Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung zeigen sich besonders deutlich in Uruguay. Dort werden Indigene marginalisiert – sie tauchen in den offiziellen Statistiken nur unzureichend auf. Gleichzeitig planen europäische, darunter auch deutsche Unternehmen Megaprojekte zur Produktion von grünem Wasserstoff und synthetischen Kraftstoffen für den Export nach Europa. Die dort lebenden Guaraní sorgen sich um ihre Wasserressourcen und um ihre kulturellen Stätten.

Sind deren kollektive Landrechte in der Verfassung nicht garantiert?

Nein. Ohne die formale Anerkennung ihrer Kollektivrechte fehlt ihnen ein wirksamer Rechtsweg. So kaufen Unternehmen wie Enertrag aus Deutschland Land, um Anlagen zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe zu errichten. Dafür greifen sie ausgerechnet auf den Guaraní-Aquifer zurück – das größte Süßwasservorkommen der Erde, das sich über alle Mercosur-Staaten erstreckt. Indigene Organisationen und lokale Gruppen, darunter Initiativen der Charrúa und Guaraní, kritisieren, dass die Pläne weitgehend ohne echte Konsultation entwickelt wurden. Sie bemängeln zudem, dass wichtige Informationen zu Wasserentnahme, Umweltauswirkungen und langfristigen Risiken nicht offengelegt werden.

Mit europäischen Standards ist das nicht vereinbar. Was sind Ihre zentralen Befürchtungen beim Mercosur-Abkommen?

In seiner jetzigen Form wird es die Zerstörung von Wäldern, Ökosystemen und indigenen Territorien weiter beschleunigen. Gleichzeitig schwächt es die rechtlichen Instrumente, die eigentlich Menschenrechte, Umweltstandards und Beteiligungsrechte schützen sollen. Nichtregierungsorganisationen und indigene Gruppen warnen eindringlich davor, das Freihandelsabkommen in dieser Form abzuschließen, weil es keine wirksamen Sanktionen gibt, wenn Menschenrechts- oder Umweltstandards verletzt werden.

Gebiete mit einer besonders großen Biodiversität liegen oft an den Grenzen zu indigenen Territorien.

Genau – und gerade dort werden auch die größten Rohstoffvorkommen vermutet. Gleichzeitig beobachten wir, wie Regierungen im Mercosur-Raum versuchen, Schutzgebiete zu schwächen und den Status indigener Territorien infrage zu stellen. Die Landnutzungsgrenzen werden zugunsten der industriellen Nutzung verschoben – das zeigt auch eine aktuelle Untersuchung über zehn Jahre in 189 Ländern[2]. Demnach findet der größte Anstieg der durch Handelsliberalisierung verursachten Entwaldung besonders in den ersten drei Jahren nach Inkrafttreten eines Abkommens statt. Und fast alle Rodungen dienen der Ausweitung landwirtschaftlicher Flächen.

Damit wird eine zerstörerische Dynamik erzeugt.

Das EU-Mercosur-Abkommen verstärkt den Exportdruck auf die Länder und fördert genau jene Sektoren, die die Ausbeutung von Rohstoffen vorantreiben. Dabei wird keine der Dynamiken gebremst, die Indigene Völker heute schon bedrohen. Ohne verbindliche Schutz- und Sanktionsmechanismen wirkt das Freihandelsabkommen wie ein Beschleuniger all jener Entwicklungen, denen Indigene Völker bereits oft schutzlos ausgeliefert sind.

Was kann die geäußerte Kritik an dem Abkommen bewirken?

Jüngste Entwicklungen zeigen, dass die Handlungsspielräume für Kritiker*innen enger und demokratische Kontrolle immer schwieriger werden. Ende November blockierte die Präsidentin des EU-Parlaments, Roberta Metsola, eine geplante Abstimmung zur Mercosur-Resolution. Damit entstand ein institutioneller Präzedenzfall: Das Europäische Parlament[3] verliert vorläufig die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, noch bevor der Rat Fakten schafft. Diese Verschiebung zugunsten des Rates schwächt die parlamentarische Kontrolle und nimmt kritischen Abgeordneten sowie der Zivilgesellschaft wichtige Einflussmöglichkeiten. Gleichzeitig beobachten wir eine massive Beschleunigung des gesamten Verfahrens.

Inwiefern?

Das zeigt sich etwa in verkürzten Konsultationen, weniger Transparenz und politischen Manövern, die eine breite Debatte umgehen. Dieser Stil ist Teil einer größeren Deregulierungskampagne der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen und der Europäischen Volkspartei (EVP). Schon erreichte Schutzstandards – etwa im europäischen Lieferkettengesetz oder bei der Entwaldungsverordnung – wurden durch diese Kampagne wieder deutlich ausgehöhlt, teilweise auch durch Absprachen mit rechten und ultrarechten Fraktionen. Das verschiebt die politische Brandmauer auf EU-Ebene weiter und beschädigt das Vertrauen in demokratische Prozesse.

Links:

  1. https://iwgia.org/en/paraguay/5748-iw-2025-paraguay.html
  2. https://www.fern.org/fileadmin/uploads/fern/Documents/2020/Fern_Report_hi-res.pdf
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1196246.eu-mercosur-abkommen-eu-mercosur-abkommen-eu-parlament-will-bauern-besser-schuetzen.html