nd-aktuell.de / 19.12.2025 / Politik

Festtagsreden und Mahnungen

Mit dem Jahrestag der ersten Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages befasste sich auch das Parlament selbst

Claudia Wangerin
Gregor Gysi bei seiner Rede zum 35. Jahrestag der Konstituierung des ersten gesamtdeutschen Bundestags. Er ist zugleich Zeitzeuge, war damals gewählter Abgeordneter der PDS.
Gregor Gysi bei seiner Rede zum 35. Jahrestag der Konstituierung des ersten gesamtdeutschen Bundestags. Er ist zugleich Zeitzeuge, war damals gewählter Abgeordneter der PDS.

Von einem »Tag, der Geschichte geschrieben hat« sprach Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) am Donnerstag – gemeint war die Konstituierung des ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestags[1] am 20. Dezember vor 35 Jahren. Das Reichstagsgebäude, in dem er getagt habe, stehe daher wie kein anderes »für Aufstieg, Absturz und auch Wiedergeburt der deutschen Demokratie«.

Abgeordnete aller Fraktionen erinnerten an das historische Ereignis und bilanzierten die »deutsche Einheit« jeweils aus ihrer Sicht. Auf der Ehrentribüne saßen Zeitzeuginnen wie Sabine Bergmann-Pohl[2] (CDU) und Wolfgang Thierse (SPD). Beide hatten 1990 der letzten Volkskammer der DDR angehört – dem laut der CDU-Abgeordneten Ottilie Klein »einzigen DDR-Parlament das je aus freien Wahlen entstanden« war – und wurden bei der Auflösung der Republik am 3. Oktober 1990 Mitglieder des Deutschen Bundestags. 144 der damals 662 Bundestagsabgeordneten stammten aus den »neuen Ländern«.

Die dortige »erfolgreiche Revolution ohne einen einzigen Toten« lobte Franziska Kersten (SPD) am Rednerpult als »Rarität in der Geschichte« und rief dazu aus: »Was für eine Leistung der Ostdeutschen!« Innerhalb von acht Wochen sei damals der Einigungsvertrag ausgehandelt worden, hob Kersten hervor – verblüffend schnell im Vergleich zu einfachen Gesetzgebungsprozessen heute.

Elisabeth Kaiser, Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, gab zu bedenken, dass Demokratie »kein ewig währendes Geschenk« sei – sie müsse »jeden Tag neu mit Leben gefüllt und verteidigt werden«. Mit Besorgnis verwies sie darauf, dass das Vertrauen in das Parlament seit 1990 gesunken sei. Damals hätten laut einer Umfrage noch 70 Prozent der Westdeutschen und 51 Prozent der Ostdeutschen dem Bundestag vertraut. »Heute sind es nur noch 37 Prozent im Westen und 27 Prozent im Osten.«

»Die Demokratie« habe in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland »schwierige Startbedingungen« gehabt – sie sei zusammengefallen mit »den Betriebspleiten, der Massenarbeitslosigkeit und den großen Abwanderungswellen«, so Kaiser. Noch heute gebe es Einkommensunterschiede in Ost und West, aber in beiden Teilen Deutschlands fühlten sich immer mehr Menschen »benachteiligt und überhört«.

Mit Gregor Gysi (Die Linke) sprach auch der Abgeordnete, der aktuell die meisten Jahre im Bundestag auf dem Buckel hat und den aktuellen deshalb bei seiner Konstituierung im Mai als Alterspräsident eröffnen[3] durfte. Gysi war auch gewähltes Mitglied des ersten gesamtdeutschen Parlaments und an jenem 20. Dezember 1990 dabei. Er gehörte ihm seither mit einer Unterbrechung von 2002 bis 2005 an und warnte nun, die Ostdeutschen hätten aufgrund ihrer Erfahrung »ein feines Gespür für fehlende Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit in der Politik« – von leeren Wahlkampf-Versprechen und vorgeschobenen Beweggründen für Entscheidungen werde die »Rechtsaußen-Seite« profitieren. »Wir sollten uns deshalb bemühen, gemeinsam die Attraktivität des Rechtsstaats zu erhöhen«, mahnte der Linke-Politiker.

Gysi erinnerte daran, dass es vor der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 nicht die CDU/CSU, sondern die SPD war, die – allerdings erfolglos – darauf bestand, dass es keine gesonderte Wertung der Wahlergebnisse in Ost und West geben sollte. Sie begründete das explizit mit der Gefahr, dass sonst die PDS in den Bundestag käme. Generell sei den Abgeordneten seiner Partei damals extrem viel Hass und Verachtung von den alt-bundesdeutschen Kolleg*innen entgegengeschlagen. Gysi weiter: »Meine Leistung besteht darin, nicht zurückgehasst zu haben.«

Die AfD-Abgeordnete Nicole Hess betonte, die »deutsche Einheit« sei mit der damaligen Konstituierung des Bundestags noch lange nicht vollendet worden – sie erfordere auch im Alltag »gleiche Chancen« und »eine Wirtschaft, die Leistung belohnt«. Zudem dürften Familien nicht behandelt werden, »als seien sie das Auslaufmodell einer woken Ideologie«. Hess’ Parteifreund Stefan Möller sagte mit Blick auf 1990: »Im Unterschied zu heute gab es eine Zukunftsvision« und beklagte: »Tiefe Gräben und eine Brandmauer durchziehen unsere Gesellschaft«.

Ronald Gläser, der vor seiner AfD-Karriere bereits 20 Jahre für die neurechte Wochenzeitung »Junge Freiheit« tätig gewesen war, sprach neben dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und drei weiteren Politikern posthum seinen Dank für ihren Beitrag zur Wiedervereinigung aus. Otto Graf Lambsdorff (FDP), Hans-Jochen Vogel (SPD) und Alfred Dregger (CDU) nannte er »Männer der Kriegsgeneration, die sich für ihr Vaterland eingesetzt haben«.

Ansonsten fiel auf, dass sich die AfD-Fraktion zu diesem Jahrestag mit den sonst bei fast jeder Gelegenheit vorgetragenen Parolen gegen Migration zurückhielt. Abgeordnete der Grünen machten derweil zu großen Teilen russische Kampagnen und Nachrichtendienste für die aktuelle Bedrohung der Demokratie durch Wahlerfolge der AfD verantwortlich, statt deren deutsche Anhängerschaft für ihre Ressentiments in Verantwortung zu nehmen. So erklärte die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic, »Autokratien wie Russland« würden die AfD und ihr Personal »wie Drohnen« einsetzen. Sie seien leicht zu steuern.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186388.ddr-versus-brd-wer-hat-die-nase-vorn.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189821.volkskammerwahlen-der-ddr-bergmann-pohl-es-war-ein-fleissiges-parlament.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189953.neuer-bundestag-alterspraesident-gysi-unsere-gesellschaft-ist-gefaehrdet.html