nd-aktuell.de / 22.12.2025 / Wirtschaft und Umwelt

Wohnungslosigkeit zwischen Zügen und Löwenzahn

Bei einer Online-Veranstaltung trafen verschiedene Perspektiven zu dem brisanten Thema aufeinander

Ruta Dreyer
Die Regierung lässt wohnungslose Menschen im Stich.
Die Regierung lässt wohnungslose Menschen im Stich.

Eine Zeit lang lebte Janina Berthold in Zügen. Einen festen Wohnplatz hatte sie nicht, also fuhr sie mit dem Deutschlandticket umher. Beim Warten nachts im Bahnhof sah sie viele andere Menschen, die wie sie lebten und die vom Sicherheitspersonal in die Kälte verwiesen wurden. Berthold erlebte das nicht. Sie bemühte sich stets darum, nicht wohnungslos auszusehen. Aus zwei Gründen: um sich sicher zu fühlen und weil sie sich schämte. »Das Bild einer Frau ist, dass sie kocht, Kinder aufzieht und den Haushalt macht«, sagte sie dieser Tage bei der Online-Veranstaltung »Obdachlosigkeit 2025 – Licht am Ende des Tunnels?«. Diesem Bild nicht zu entsprechen, fühle sich manchmal wie ein Versagen an.

Viele wohnungslose Frauen seien unsichtbar, erklärt der Historiker Niko Rollmann, der mehrere Texte zum Thema publiziert hat. Er moderierte die Veranstaltung des Bildungsträgers Robert-Tillmanns-Haus e.V.. Janina Berthold besprach hier zusammen mit verschiedenen Aktivist*innen und Forscher*innen Erfahrungen und politische Entwicklungen. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe lebten im Jahr 2024 in Deutschland 1,029 Millionen Menschen ohne eigene Wohnung. [1]Unter den Erwachsenen – rund 765 000 – befanden sich 39 Prozent Frauen.

Berthold selbst ist Teil des »Frauen*Salon«, der einen digitalen Raum für Vernetzung wohnungsloser Frauen schafft. Zum diesjährigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November trafen sie sich zum ersten Mal in Präsenz und besuchten gemeinsam eine Demo in Nürnberg. Solche Treffen wollen sie im kommenden Jahr ausbauen – auch dafür sind sie auf der Suche nach finanzieller Förderung, die derzeitige läuft bald aus. Zum Frauen*Salon kam Berthold über die Wohnungslosenstiftung, einer politischen Vernetzung und Selbstvertretung wohnungsloser Menschen.

Geld für Waffen statt für soziale Sicherheit

Stefan Schneider hat die Wohnungslosenstiftung gegründet. Da er bereits seit den 1990er Jahren für die Selbstorganisation wohnungsloser Menschen kämpft, beschreibt Historiker Rollman ihn als »Aktivistenveteran«. Schneider ordnet das Thema in den aktuellen internationalen Kontext ein. Dabei warnt er vor gefährlichen Entwicklungen. In den ersten Tagen der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump verkündete dieser, den Ukraine-Krieg beenden zu wollen. Mit dem gesparten Geld wolle er eine Art »Internierungslager« für wohnungslose Menschen außerhalb der Stadtzentren schaffen.

Laut Schneider kommen politische Entwicklungen in den USA Jahre später oftmals auch in Europa an: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten europäischen Politiker diese Idee als eine Lösung für Wohnungslosigkeit adaptieren werden.« Er befürchtet, dass die Gesellschaft ihre Handlung gegenüber den betroffenen Menschen wandele: von Akzeptanz und angestrebter Reintegration hin zu der Auffassung, sie seien eine »Störung« und man müsse sie unsichtbar machen.[2]

Für Schneider hängt das mit der Militarisierung zusammen. Während die Regierung das Geld in die Armee und Waffen stecke, fehle es bei der sozialen Sicherung. Als Lösung für Wohnungslosigkeit würden dann Räumungen angestrebt, anstatt die Menschen finanziell zu unterstützen. »Es ist nicht nur ein Problem, es ist eine menschliche Katastrophe«, sagt er. Diesen Punkt zu machen, sei seine Motivation für das Online-Seminar gewesen.

Unterschiedliche Vorstellungen von Zuhause

Die Soziologin und Aktivistin Khushboo Jain kritisiert eine kapitalistische und heteronormative Idee von »Zuhause«. Letzteres meint die Annahme, dass alle Menschen binär und heterosexuell seien und sein sollten. Daraus ergebe sich eine Sichtweise auf Wohnungslosigkeit, wonach das klassische Bild eines Zuhauses mit einem Dach über dem Kopf und einer heterosexuellen Beziehung einhergehe. Stattdessen gebe es unterschiedliche Vorstellungen von Zuhause, die es anzuerkennen gelte. Damit erklärt Jain auch, warum einige Betroffene die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen ablehnen. Bei ihrer Forschungsarbeit zu Wohnungslosigkeit, vor allem im indischen Delhi, habe sie sich in einen Prozess begeben, um traditionelle Konzepte zu verlernen. Im Laufe der Interviews, die die Sozialwissenschaftlerin führte, entwickelte sie einen kritischen Blick auf institutionelle Lösungen. »In dem Moment, in dem wir das Kind aus seinem sozialen Netzwerk herausbrechen und wir sagen, dass die Institution besser sei, machen wir die Familie unsichtbar.« Stattdessen plädiert sie dafür, mit bestehenden Strukturen zu arbeiten, die die Menschen selbst entwickelt hätten. Nachbarschaften seien von großer Relevanz.

Das Plädoyer dafür, mit den Menschen zu arbeiten, eint Berthold, Schneider und Jain. Schneider nennt dies die »Idee der Handlungsfähigkeit«. Ihm gehe es nicht darum, einen Service anzubieten, sondern die betroffenen Menschen selbst zum Handeln zu bewegen. Eine individuelle Geschichte könne andere motivieren, ein Netzwerk würde sich ausbilden. Auch Berthold ermutigt, nicht aufzugeben: »Stellt euch vor, der Boden bricht auf und der Löwenzahn kommt überall ein bisschen durch«, so beschreibt sie ihr Suchen nach Glücksmomenten. Trotz Trump in den USA, der Wohnungslose zum Feindbild macht, trotz des Rechtsrucks auch in Deutschland.

Das Jahr 2025 bewerten Forscher*innen und Aktivist*innen ambivalent – wegen der Sorge um die Zukunft, doch ebenso wegen Unterstützung und Solidarität. Auch das deutet auf ein »Licht am Ende des Tunnels« hin.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195513.wohnungslosigkeit-ueber-eine-million-wohnungslose.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194809.mythen-ueber-wohnungslose-wohnungslosigkeit-warum-das-ganze-elend.html