Im Prozess gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und über 400 weitere Angeklagte steht nun der Termin für den Prozessauftakt fest. Am 9. März 2026 wird die Verhandlung gegen den CHP-Politiker beginnen, dem nicht nur Korruption, sondern auch die Führung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird. Die Anklageschrift umfasst rund 3700 Seiten, das geforderte Strafmaß wären mehr als 2000 Jahre Gefängnis. Für den Angeklagten steht fest: »Die Vorwürfe werden genutzt, um die gewählte Verwaltung Istanbuls als kriminelle Organisation und ihren Bürgermeister als Bandenführer darzustellen.« Die Justiz stütze sich auf eine gezielte Fehlinterpretation gewöhnlicher kommunaler Arbeit sowie auf anonyme Zeugen. Vertraulichkeitsanordnungen hätten selbst sein eigenes Anwaltsteam daran gehindert, die Beweismittel zu prüfen.
İmamoğlu benennt die Motivation, die hinter diesem Verfahren aus seiner Sicht steckt, deutlich: »In diesem Verfahren geht es nicht um Gerechtigkeit. Es geht um das politische Überleben von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Nachdem ich in Istanbul mehrfach von Erdoğan persönlich ausgewählte Bürgermeisterkandidaten besiegt habe, bin ich nun der Kandidat meiner Partei[1], um ihn bei der nächsten Präsidentschaftswahl herauszufordern, die spätestens bis 2028 stattfinden muss. Die juristischen Verfahren, mit denen ich konfrontiert bin, sind der Versuch der Regierung, die Opposition zu erdrosseln und eine politische Landschaft zu konstruieren, in der Erdoğan keiner Konkurrenz gegenübersteht – weder jetzt noch in den kommenden Jahren.«
Trotz Haft äußert sich İmamoğlu immer wieder in internationalen Medien, um nicht nur auf seine persönliche Lage aufmerksam zu machen, sondern auch, um das politische Programm seiner Partei darzulegen. Mitte Dezember erklärte er im US-amerikanischen Journal »Foreign Affairs« die außenpolitischen Ziele seiner Partei und kritisierte die Strategie der herrschenden AKP. Deren Außenpolitik hätte vor allem zur Machtkonsolidierung im Inneren beigetragen. Unkluge Entscheidungen – gemeint ist unter anderem der Erwerb des russischen Luftabwehrsystems S-400 im Jahr 2019 – hätten die Glaubwürdigkeit der Türkei gegenüber ihren Verbündeten wie der Nato untergraben. Die Türkei könne keine Stabilität ausstrahlen, solange ihre Institutionen geschwächt, ihre Wirtschaftszahlen verfälscht und die Opposition kriminalisiert seien.
İmamoğlu sieht seine eigene Inhaftierung als Teil eines umfassenden Versuchs, fairen politischen Wettbewerb zu verhindern und der Türkei die Regierungsführung zu verwehren, die es verdiene. Eine CHP-Regierung hingegen würde nicht nur die erneute Annäherung an die EU, sondern auch an die USA bedeuten. Stärkere Verbindungen, auch zur Trump Regierung, militärische Kooperation und mehr Sicherheit für Investoren seien möglich, wenn die Bürger der Türkei den inhaftierten İmamoğlu zum Präsidenten wählen dürften. Er verspricht eine »berechenbare, kompetente wirtschaftspolitische Führung, die Investitionen anzieht und Vetternwirtschaft beendet«. Daraus würden sich »Chancen« und »Resilienz« für das gesamte Land ergeben. Welche konkreten Auswirkungen diese veränderte Außenpolitik auf die breite und stetig verarmende Bevölkerung der Türkei haben würde, erklärt İmamoğlu in seinem Text allerdings nicht.Ist İmamoğlu tatsächlich der einzige Kandidat, der Erdoğan in der kommenden Präsidentschaftswahl die Stirn bieten könnte? Dass die türkische Justiz eine lange Liste mit scheinbar haltlosen Vorwürfen und einem absurd hohen Strafmaß vorgelegt hat, scheint für viele schon Beweis genug zu sein: Hier soll der stärkste Gegenkandidat aus dem Weg geräumt werden, gegen den Erdoğan bei fairen Wahlen keine Chance hätte. Dafür spricht, dass auch andere Politiker, die in der Vergangenheit eine Bedrohung für Erdoğans Führungsanspruch darstellten, noch in Haft sitzen. Beispielsweise der kurdische Anwalt und ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş. Er hatte im Zuge des Wahlkampfs im Jahr 2015 deutlich an Erdoğan gerichtet gesagt: »Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen!« 2017 hatte die HDP dann in einer breiten Kampagne gegen die Verfassungsänderung mobilisiert, die die Einführung des Präsidialsystems und damit auch eine weitere Amtszeit für Erdoğan ermöglichen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Demirtaş bereits inhaftiert.
CHP-Sprecher Zeynel Emre antwortete auf die Frage, ob aufgrund der juristischen Ermittlungen gegen İmamoğlu der CHP-Vorsitzende Özgür Özel nun als Präsidentschaftskandidat in den Vordergrund rücke: »Mit dieser Vorannahme handeln wir nicht. Würden wir das tun, würden wir uns den juristischen Operationen der Regierung beugen. Hier liegt eindeutig Rechtswidrigkeit vor, und unsere Haltung ist klar. Der von uns als Präsidentschaftskandidat benannte Name ist Ekrem İmamoğlu.« Özel selbst hingegen antwortete auf die gleiche Frage an anderer Stelle, İmamoğlu sei schon längst nicht mehr nur der Kandidat der CHP, sondern dessen gesamtes Volkes. Die Entscheidung, einen anderen Kandidaten aufzustellen, obliege daher nicht mehr nur der Partei. Derweil setzt die CHP ihre landesweite Tour fort, auf der in jeder Stadt Kundgebungen unter dem Slogan »Das Volk verteidigt seinen Willen« abgehalten werden. Dort sammelt sie auch Unterschriften derjenigen, die vorgezogene Neuwahlen unterstützen. Laut Özel seien dafür bereits 25 Millionen Stimmen zusammengekommen. Laut aktueller Gesetzgebung kann Präsident Erdoğan nur als Kandidat erneut antreten, wenn die Wahlen vor dem offiziellen Datum im Jahr 2028 stattfinden. Ob İmamoğlu bis dahin wieder auf freiem Fuß sein wird, ist ungewiss. Das Gericht hat eine maximale Prozessdauer von 4600 Tagen festgelegt – das entspricht 12,6 Jahren.