Deckname O'Donnell

Dieter Kühn: Mysteriöses aus der Shakespeare-Zeit

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein einziges Mal taucht en passant der Name Shakespeare auf. Gegen einen Schauspieler, W. Shakespeare, sei Anzeige erstattet worden »von einer Person, die sich mit Leib und Gut bedroht fühlte«, schreibt Christopher Marlowe an seine Eltern in Canterbury. Das Schreiben wurde natürlich abgefangen und überprüft. Dabei wurde »eine gewisse Begabung des Einschleußungskandidaten für die Entwicklung einer Legende« mit Befriedigung registriert.

»Geheimagent Marlowe« – dass der berühmte britische Lyriker und Dramatiker Christopher Marlowe (1564-1593) mit Sir Francis Walsingham (1532-1590), dem Begründer des britischen Secret Service, wohl bekannt gewesen sein soll, ist keine Neuigkeit. Dessen junger Vetter Thomas soll Marlowes Liebhaber gewesen sein. Zum Aufenthalt des Protestan- ten (!) Marlowe am Katholischen Priesterseminar in Reims soll tatsächlich ein ihn entlastenden Brief des Kronrats überliefert sein, dass er Königin Elisabeth dort gute Dienste erwies. Wie diese aussahen, ob sie mit der Aufdeckung der sogenannten Babington-Verwörung – der geplanten Ermordung Elisabeths und anschließenden Inthronisierung Maria Stuarts – im Zusammenhang standen, ist bislang ungeklärt.

Dieter Kühn hat, wie in früheren Werken, verbürgte und angenommene Fakten mit Fantasie verwoben. Herausgekommen ist weniger ein farbenprächtiger historischer Roman als ein Spionagethriller, in den der Autor so manches hineingepackt hat, was er über das Funktionieren von Geheimdiensten generell weiß. Dass es damals nicht anders zuging als heute oder heute nicht anders als damals, will er dem Leser vor Augen führen. Um die Gesetzmäßigkeiten und Mittel jenes Machtspiels ging es ihm, in das der Einzelne vielleicht zunächst mit »Bubenlust« einwilligt, weil spannende Aktionen ein gesteigertes Lebensgefühl erwarten lassen. Doch es folgen Beklemmung, Angst, die Einsicht, nur Marionette an der Strippe, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Und die Befreiung gelingt nicht …

»Wir häufen hier eine historische Unwahrheit auf die andere, um ein zutreffendes Bild zu bekommen« – dieses Zitat von Johannes Bobrowski stellt Dieter Kühn dem Roman voran. Er lässt Marlowe, nachdem er sich nach den Vorfällen in Reims vom Dienst distanzierte, unter Druck eine neue Verpflichtung eingehen. Marlowe wird unter dem Decknamen Red O'Donnell nach Paris geschickt, um etwaige Kriegsvorbereitungen gegen England auszukundschaften. Natürlich hat die Sûreté Générale sofort ein Auge auf ihn, was man in England, wo man vom gegnerischen Dienst nichts hält, erstmal nicht glauben will. Ausgerechnet ein Agent namens Guillaume schafft es, Marlowe zum Doppelagenten »umzudrehen«, indem er ihn mit Inhaftierung und Folter seines Liebhabers Gérard erpresst. Nach England zurückgelockt, ist Marlowe von der Todesstrafe bedroht, weil er angeblich den Klarnamen des »Chefs« preisgegeben haben soll. Der freilich hatte mit dem französischen Kollegen vorher schon mal eine Flasche Wein geleert …

Es ist schon amüsant, der heutigen »Lingua securitatis« in einem lange zurückliegenden historischen Kontext zu begegnen. »Schild und Schwert«, »unsichtbare Front«, »Quelle«, »abschöpfen«, »Maulwurf«, »Legende« usw. Aber so wie sich der Dichter Marlowe in dieser Sprachwelt zunehmend unwohl fühlt, geht es auch dem Leser. Es ist schon verständlich, warum Dieter Kühn seinen Roman fast ausschließlich aus diversen »Berichten« komponierte – von Marlowe an seine Auftraggeber, von verschiedenen Mitarbeitern und Informanten des Royal Secret Service und der Sûreté Générale über ihn und natürlich auch übereinander, einer schätzt den anderen ein –, aber die direkte Aktion geht dadurch verloren. Der Autor wird beim Schreiben gemerkt haben, dass der Roman selbst sozusagen dienstverpflichtet ist und nach lebendiger Sprache ruft. Die bricht hin und wieder aus Marlowe hervor, der von seinen Auftraggebern deshalb zur Ordnung gerufen wird.

Marlowes Sehnsucht: Endlich wieder in Ruhe schreiben! Dann eben unter anderem Namen in einem Turm auf einem winzigen Inselchen vor der irischen Küste, die er dabei, bitteschön, auch wachsam im Auge behalten könnte. Seinetwegen ein Stück wie »Edward III«, »in dem Englands Position gestärkt wird, indem das Selbstgefühl der Zuschauer und Leser gestärkt wird«. Das gleichnamige Shakespeare-Stück ist bekanntlich 1596 veröffentlicht worden. Sowieso dürfte einem aufmerksamen Leser durch die nur einmalige Erwähnung Shakespeares klar geworden sein, welcher der kursierenden Versionen um dessen biografische Rätsel Dieter Kühn zuneigt.

Der Buchumschlag zeigt auf der Rückseite das Bild eines Mannes, dem ein Dolch ins Auge gestochen ist. So etwa soll Christopher Marlowe in Deptford tatsächlich ermordet worden sein. Lange hieß es, er sei bei einer Wirtshausschlägerei von einem Nebenbuhler erdolcht worden. Spätere Arbeiten benennen die drei bei Marlowes Tod anwesenden Personen als dem britischen Geheimdienst zugehörig. Auch wird geltend gemacht, dass ein Dolchstoß oberhalb des rechten Auges, zwei Daumenbreit tief, wie er im lateinischen Bericht des Untersuchungsrichters beschrieben ist, nach heutigem neurochirurgischen Wissen nicht tödlich gewesen sein kann.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Roman eines Mordes. S. Fischer Verlag. 263 S., geb., 18,90 EUR.

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