Putin lässt Freund und Feind rätseln

Keine »Überraschung« bei der Wahl-Show in Moskau / Die Gerüchteküche brodelt weiter

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.
Über 5000 Aktivisten aus allen Regionen Russlands hatten sich am Mittwoch im Moskauer Lushniki-Sportpalast zu einem »Forum der Unterstützer Putins« versammelt. Offizieller Anlass: Die Führung der Partei »Einiges Russland« überreichte dem Präsidenten, der für sie bei den Parlamentswahlen am 2. Dezember als Spitzenmann ins Rennen geht, den Kandidatenausweis.

Der Anwalt Pawel Astachow, einer der Vorsitzenden der neu gegründeten Bewegung »Sa Putina« (Für Putin), die zusammen mit der Partei »Einiges Russland« als Organisator der Show auftrat, hatte bei einem Pressegespräch am Mittwochmorgen eine »kleine Überraschung« angekündigt. Gleich danach überschlugen sich die Gerüchte: Putin, gegenwärtig formell parteilos, werde einen Aufnahmeantrag stellen, hieß es bei staatsnahen Medien. Die Konkurrenz dagegen spekulierte, der Kremlchef werde seinen vorzeitigen Rücktritt bekannt geben, um bei den Präsidentenwahlen im kommenden März erneut antreten zu können. Diese Gerüchte bekamen neuen Auftrieb, als Sergej Mironow, der Vorsitzende des Föderationsrates, die Rücktrittsversion kurz vor Beginn der Veranstaltung indirekt bestätigte: Einen »derartigen Algorithmus« lasse die russische Verfassung zu.

Anhänger und Autoren der Verschwörungstheorie erwartete indes eine Enttäuschung. Putin bekräftigte erneut, dass er für ein Spitzenamt – welcher Art auch immer – nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit nicht zur Verfügung steht. In den nächsten Monaten werde es zu einer »vollständigen Erneuerung der obersten Staatsmacht« kommen. Damit diese Erneuerung jedoch erfolgreich, zum Wohle aller Bürger verlaufe, müsse »Einiges Russland« bei den Parlamentswahlen am 2. Dezember siegen. Unter den Kandidaten anderer Parteien gebe es Leute, die das »oligarchische System restaurieren« wollten. »Gelernt haben sie bei westlichen Spezialisten, trainiert in den Nachbarrepubliken, und nun versuchen sie's bei uns«, sagte Putin. »Das lassen wir nicht zu«, rief einer aus dem Saal. Putin darauf: »Richtig so!«

Derweil brodelt die Gerüchteküche munter weiter. Und daran ist Putin nicht unschuldig. Wo immer sich der Präsident – wie Mitte voriger Woche mit Eisenbahnern und Bauarbeitern im sibirischen Krasnojarsk – mit Wählern trifft, die ihn förmlich bestürmen, auch künftig »aktiven Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik Russlands zu nehmen« und »nationaler Führer« zu bleiben, lehnt er das keineswegs ab. Vielmehr spricht er von »Varianten«, die für dieses Projekt bestehen, legt sich jedoch nicht fest und nennt weder Modalitäten noch die Namen möglicher Nachfolger.

In Krasnojarsk hatte Putin erklärt, wenn die Leute für »Einiges Russland« stimmten, dessen Liste er anführe, bedeute dies, dass sie ihm vertrauten. Und dieses Vertrauen gebe ihm »das moralische Recht«, die Duma und die Regierung zur Fortführung des politischen Kurses zu verpflichten, den er eingeschlagen hat. »Einiges Russland« sei zwar nicht die »ideale politische Struktur«, es fehle der Partei an einer Ideologie und an stabilen Prinzipien, für die ihre Mitglieder zu kämpfen bereit wären, und die Nähe zur Macht ziehe immer Trittbrettfahrer an, »aber etwas Besseres haben wir nicht«. Deshalb habe er sich entschlossen, für diese Partei zu kandidieren. Die Duma-Wahl wird damit zum Referendum für oder gegen Putin, und »Einiges Russland« ist geradezu verpflichtet, einen Stimmenanteil in der Nähe des Putin-Ergebnisses bei der Präsidentenwahl 2004 zu erreichen: 71,2 Prozent.

Die Ungewissheit darüber, welche konkrete Rolle Putin künftig zu spielen gedenkt, lässt auch Moskauer Politologen unablässig im Nebel stochern und bisweilen scharfe Kehrtwendungen vollziehen. Noch Ende letzter Woche hatte Stanislaw Belkowski vom Institut für nationale Strategien bei Radio »Echo Moskwy« eine dritte Amtszeit Putins mit der Begründung ausgeschlossen, der Kremlchef sei angesichts vieler Probleme, die er nicht steuern könne, nur noch darauf bedacht, den Ausbruch der »Katastrophe« während seiner Amtszeit zu verhindern, um sich einen würdigen Eintrag in die Annalen der Geschichte zu sichern. Am Mittwoch wartete auch er mit der Variante Rücktritt und neue Kandidatur auf.

Die Konkurrenz erklärt Putins Zögerlichkeit damit, dass er seine Kompetenzen bis zum letzten Moment ausreizen will. Auch um seine Umgebung im Ungewissen zu lassen und dadurch Flügelkämpfe zu verhindern. Desorientierung des Gegners gehört zwar zur Taktik von Tschekisten, könnte in Putins Fall jedoch nach hinten losgehen: Politiker, Wirtschaft und Bevölkerung nervt die Ungewissheit über die künftige Gestaltung der Macht und ihrer wichtigsten Akteure.

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