Extreme Kinderarmut im Nordosten

Schweriner Koalition will Kita-Gebühren senken / Sozialverbände kritisieren Prioritätensetzung

  • Velten Schäfer, Schwerin
  • Lesedauer: 3 Min.
Sollen die Eltern armer Kinder bei den Kosten im letzten Kita-Jahr entlastet werden oder bei den Kosten für das Schulessen? Die Schweriner Koalition übt sich im Geldverteilen. Allerdings kaum mit den eigenen Euros – und nicht, ohne andernorts zu kürzen.

Gestern erst sorgte wieder einer dieser »Fälle« für Aufsehen in Mecklenburg-Vorpommern: Ein gerade mal fünfjähriges Mädchen ist nach Berichten der Regionalpresse offenbar buchstäblich verhungert. Gut ein Drittel der Kinder im Nordosten lebt in Hartz-IV- Familien und muss nach Meinung von Sozialexperten als arm gelten. Daher drängt sich das Thema Kinderarmut unaufhaltsam auf die politische Agenda.

Am späten Dienstagabend hat sich nun die rot-schwarze Landesregierung nach langem internen Streit auf ein Kinder-Hilfsprogramm verständigt. Ab September 2008 sollen die Beiträge für das letzte Kita-Jahr deutlich sinken; gleichzeitig will die Koalition für bedürftige Kinder einen Zuschuss bei den Kosten für das Schulessen gewähren. Im Haushaltsjahr 2009 seien für die Beitragssenkung 8,5 Millionen Euro eingeplant, der Essenszuschuss soll das Land sechs Millionen Euro kosten. Für 2008 würden die Kosten »anteilig festgeschrieben«, versicherte Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) gegenüber Journalisten. Sein Koalitionspartner Jürgen Seidel (CDU) sprach vom »Einstieg in eine beitragsfreie Kita«. Wie viel Kita-Geld Eltern in Mecklenburg-Vorpommern ab September 2008 einplanen müssen, konnte aber auch der Wirtschaftsminister nicht sagen. Im Vorfeld war von 20 statt der jetzigen 116 Euro monatlich die Rede gewesen.

Seidel kann mit diesem Ergebnis hochzufrieden sein, denn die Senkung der Kita-Beiträge war das zentrale Wahlversprechen der Union. Für Ringstorff ist die Einigung schon weniger befriedigend; er hatte sich eine andere Verteilung der zusätzlichen 20 Millionen gewünscht, die die Koalition im Doppelhaushalt 2008/09 für Kinder locker machen will: mehr fürs Kita-Essen und weniger für die Gebühren.

Kritik kommt dagegen von Sozialverbänden, Kita-Trägern und der Opposition. Silvia Sandmann vom Paritätischen Wohlfahrtverband etwa sieht sieht wenig Sinn in der Beitragssenkung, denn Kita-Gebühren seien ohnehin steuerlich absetzbar gewesen. Ihr »leuchtet nicht ein«, warum die Landesregierung nun ausgerechnet diesen »Vorteil« abschaffen wolle. Das hierfür eingesetzte Geld jedenfalls werde »an anderer Stelle« fehlen, etwa bei der Verbesserung des Betreuungsschlüssels in Kindertagesstätten. Ein günstigeres Verhältnis von Kita-Betreuern zu Kindern – derzeit beträgt es im Nordosten 1:18 – wünscht sich auch FDP-Sozialexperte Ralf Grabow.

Auch Angelika Gramkow, Finanzexpertin der LINKEN-Fraktion, spricht von einem »finanzpolitischen Verschiebebahnhof«. Die Regierung wolle sich als sozial profilieren, setze aber trotz guter Haushaltslage »kaum eigene zusätzliche Mittel« ein. Zu einem Großteil würden die Maßnahmen aus dem Bundesprogramm zur Förderung der Kinderbetreung bezahlt. Zusätzlich zapfe die Koalition die sieben Millionen Euro an, die laut Kita-Gesetz jährlich für vorschulische Bildung zur Verfügung stehen. 2008 soll hier eine, 2009 weitere zwei Millionen Euro gestrichen werden.

»Das ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern angesichts der sozialen Lage unserer Kinder auch kinderfeindlich«, meint die frühere Sozialministerin Marianne Linke. Essensbeihilfen nur für arme Kinder stigmatisierten diese bereits im Kita-Alter; besser sei ein Mahl für alle, das den Kindern zudem »ganz direkt zu Gute kommen würde«, so die jetzige Kinder- und Jugendpolitikerin der LINKEN in Mecklenburg-Vorpommern.

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