Cora Crippen lebt?

  • Reinhard Rennebrg, Hongkong
  • Lesedauer: 3 Min.
Vignette: Chow Ming
Vignette: Chow Ming

Als Kind faszinierten mich die Filme »Dr. Crippen lebt!« und »Dr. Crippen an Bord«. Dr. Hawley Crippen war wohl nach Jack the Ripper der spektakulärste Kriminalfall der britischen Geschichte. Crippen endete am Galgen. Wahrscheinlich unschuldig.

Was war geschehen? Am Abend des 31. Januars 1910 fand im Haus des Homöopathie-Arztes Dr. Crippen und seiner Frau Cora eine kleine Feier statt. Nachdem die Freunde gegangen waren, soll es zum Streit gekommen sein, an dessen Ende Crippen seine Frau mittels eines Cocktails mit dem Beruhigungsmittel Scopolamin umgebracht habe.

Nach der bisherigen Theorie zerlegte Dr. Crippen dann die Leiche und vergrub den Torso ohne Kopf, Arme und Beine unter den Fliesen im Keller. Bekannten gegenüber sagte er, seine Frau wäre in die USA zurückgezogen und dort verstorben. Zur selben Zeit zog Crippens Geliebte Ethel le Neve in das Haus ein. Die Polizei wurde aufmerksam, Crippen konnte jedoch die Verdachtsmomente zerstreuen. Er und Ethel reisten schnurstracks nach Brüssel ab und bestiegen in Antwerpen schließlich das Schiff »Montrose«, das sie nach Kanada bringen sollte. Diese überstürzte Abreise veranlasste Scotland Yard zu einer weiteren Untersuchung des Hauses, wo man unter dem Kellerfußboden Überreste einer Leiche entdeckte.

Der Kapitän der »Montrose« war über die Vorgänge in Großbritannien per Funk informiert. Er erkannte die Flüchtigen unter seinen Passagieren, obwohl sich Ethel le Neve als junger Mann verkleidet hatte. Ein Inspektor begab sich an Bord des schnelleren Schiffes »Laurentic« und verhaftete Crippen und seine Geliebte am 31. Juli 1910.

Crippen gilt als erster Verbrecher, der mit Hilfe der drahtlosen Kommunikation gefasst wurde. Er wurde im November 1910 in London gehenkt, obwohl er immer seine Unschuld beteuerte. Die Jury in Old Bailey, dem Schwurgericht im Zentrum Londons, brauchte gerade mal 27 Minuten, um ihn schuldig zu sprechen.

Jetzt stellt sich das Urteil möglicherweise als Justizirrtum heraus. Fast 100 Jahre später wird der Fall durch den Toxikologen John Harris Trestrail, den forensischen Biologen David Foran und die Genealogin Beth Wills neu aufgerollt.

Das Team um Dr. Foran von der Michigan State University untersuchte die fast 100 Jahre alte Mikroskopscheibe, auf der der berühmte britische Pathologe Sir Bernard Spilsbury damals eine Probe vom Bauchgewebe der Leiche untersucht hatte. Eine von ihm vermeintlich erkannte Narbe von Cora Crippen wurde zum wichtigen Indiz für ihre Indentität und die Täterschaft ihres Ehemanns.

Auf diesem letzten erhaltenen Beweisstück konnte Foran Spuren von DNA nachweisen. Das war nicht einfach: Das Präparat war in Formaldehyd fixiert und in Harz konserviert worden. Es gelang dennoch, die mitochondriale DNA (mt-DNA) der Gewebeprobe zu isolieren. Diese mt-DNA wird von der Mutter zur Tochter vererbt, ist stabiler als die DNA des Zellkerns und auch leichter zu gewinnen.

Sieben Jahre lang suchte Beth Wills nach heute noch lebenden weiblichen Verwandten von Cora Crippens Mutter. Sie fand drei Großnichten, deren mt-DNA sie untersuchen konnte – keine passte zu der Gewebeprobe.

»Dr. Crippen wurde nicht einfach als Mörder, sondern als der von Cora Crippen verurteilt«, sagt John Harris Trestrail. »Wenn die Leiche nicht Cora ist, dann galt das Gerichtsverfahren einem anderen.« Der Fall ist damit dennoch nicht geklärt. Wessen Leiche war es dann, und warum hatte sich die wohl noch lebende Cora Crippen nicht gemeldet, als die Nachrichten vom Todesurteil um die Welt gingen?

Übrigens: In den USA wurden bisher mehr als 100 zu Unrecht zum Tode verurteilte Menschen später freigelassen. Niemand weiß, wie viele Unschuldige trotzdem sterben mussten. Die DNA wird zum Hoffnungsträger ...

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal