Das Licht einer Petroleumlampe

Wie der Prolet Ludwig Turek sein Leben erzählt

  • Peter Arlt
  • Lesedauer: 4 Min.
Ludwig Turek
Ludwig Turek

Es war die Frage nach dem schönsten ersten Satz, die mir in Erinnerung rief, was ich vor etwa fünfzig Jahren erlebte. Wir Schüler saßen in der Aula der Kinder- und Jugendsportschule »Friedrich Engels« in Halle, erwartungsvoll, denn ein Dichter war angekündigt: Ludwig Turek, eingeladen von dem jungen Deutschlehrer und Autor Werner Heiduczek. Turek nahm auf der Bühne Platz, und seine Stimme füllte den Saal, von weiten, kraftvollen Gebärden begleitet. Er erzählte mit viel Humor von einer Bootsfahrt und spannend, wie er zuvor im Ersten Weltkrieg desertierte, und am Anfang von seiner kärglichen Kindheit. Da fiel der Satz, der mich so beeindruckte, dass ich mir fest vornahm, das autobiografische Buch »Ein Prolet erzählt« zu lesen.

Es kam nicht dazu. Es gab andere Lieblingsschriftsteller, Leonhard Frank, Hermann Hesse. Da war in mir einiger intellektueller Hochmut, der keinen Platz ließ für den erzählenden Proleten. Doch begleitete mich der erste Satz seines Buches durch mein Leben. Nun wollte ich aber das Buch lesen, neugierig auf die Wiederbegegnung mit dem Schriftsteller, und grundlegender, weil ich den Rückzug der mit dem Volke verbundenen Literatur und Kunst bemerke. Im Buchhandel seit Langem vergriffen und in den Bibliotheken hier nicht mehr vorhanden, gab es das Buch antiquarisch in Auflagen seines Verlages Neues Leben und bei Reclam, Fischer, Kiepenheuer, Roederberg, doch als »Pirckheimer« bevorzugte ich die Erstauflage im Malik-Verlag, Berlin 1930, mit einem Buchrückentext »Über ein Jahr/ auf Schritt und/ Tritt Bleistift/ und Briefblock/ in dauernder/ Bereitschaft (...) so habe/ ich dieses Buch/ geschrieben.«

Nun las ich und hörte ihn wieder, den ersten Satz von Ludwig Tureck (damals noch mit c), der lautet: »Am 28. August 1898, an einem Sonntagabend, erblickte ich zum erstenmal das Licht. Es war das Licht einer Petroleumlampe.« Dieses »Licht einer Petroleumlampe« zeigt ein ärmliches Milieu und erweist sich als die Vorankündigung des Lebensweges. Zwar gibt es von Liebe und Solidarität erhellte Tage, und an einem Geburtstag leuchten später Turek auch einmal duftende Birnen vor dem Fenster – der Gefängniszelle. Vielerorts wurde es weitaus finsterer, und nicht nur einmal sollte ihm das Lebenslicht standrechtlich ausgeblasen werden. Scharf beobachtend, mit oft bitter-trockenem Humor, immer grundehrlich, zupackend, so selbst- wie klassenbewusst gestaltete der Prolet Turek, eben nicht Staatsmann oder Star, seine lesenswerten und immer noch belangvollen Erinnerungen. Er erzählt geradlinig und direkt, im Verlass, dass der Alltag in seinen Zufälligkeiten Exemplarisches für ein wahrhaftiges Zeit-Bild enthält, wie beim Teilen eines Herings mit sieben Geschwistern.

Unmittelbar realistisch läuft das Geschehen in der Reihenfolge seines Lebensweges ab. Diesen Eindruck steigert er, indem er die Leute in den verschiedenen deutschen Dialekten, nicht nur im heimischen – stendalisch – sprechen lässt, dazu holländisch, russisch oder polnisch. Dabei beherrscht Turek die stilistische Klaviatur aller sozialen Schichten, auch den gehobenen sprachlichen Ausdruck adliger Damen, wie das der Alfreda von S. aus Weimar, die er in einem lebendigen Sprachporträt in ihrer Not als farbige Frau vor Augen stellt: »Fast nie weiß ich, obwohl formale Höflichkeit mir gegenüber meistens ebenso gewahrt wird, wie bei den hiesigen Damen, ob nicht doch im Geheimen das Gefühl vorherrscht, ich sei nicht ganz vollwertig zu nehmen.«

Dem Manne, der sich im »Urwald des Kapitalismus« durchschlug als Kleinknecht, Buchdrucker, Soldat, Häftling, als Schieber mit Gewissensbissen, als Kämpfer der Roten Ruhrarmee und verhinderter Verteidiger des jungen Sowjetrusslands, der wie ein »in die Luft geschissenes Fragezeichen« auf Arbeitssuche kreuz und quer durch das von der Wirtschaftskrise geschüttelte Land zog, bei Hösch, in einer Lokomotiv-Brikettfabrik, dann im Kalischacht schuftete und schließlich als Schriftsetzer und Familienvater in Leipzig landete, ihm glaubt man jedes Wort. Die Sprache der Fakten überzeugt; denn sie ist von bildhaften, Emotionen weckenden Wendungen durchtränkt und trifft beim Leser auf analoge Erfahrungen. Eine Arbeit als Buchdrucker zu finden, war schwieriger »als dem lieben Gott im Mondschein zu begegnen«. Lottoriespieler kamen ihm vor, »als wenn ihnen der Wind das Geld vom Fenster geblasen hat und sie warten, bis er es wiederbringt«. Mit der Freude an unbekannten Wörtern greift er das thüringische »Menscher« für Mädchen auf, die ihn heimlich und gern besuchten, dass er bangte, die »Möbelstücke mit musikalischen Talenten« könnten sie verraten.

Dieser Prolet auf der Walz lässt dem Leser das Volk in allen sozialen und politischen Schattierungen begegnen, charaktervolle wie merkwürdige Menschen, »seltene Marken«. Wenn der Kommunist Turek den sozialdemokratischen Genossen an seiner Seite ihre verräterischen Führer Noske oder Severing entgegenstellt und bekräftigt, wie richtig die feindliche Haltung der proletarischen Bevölkerung gegenüber den Freikorpstruppen war, mischen sich agitatorische Töne ein und kündigen kommenden Auseinandersetzungen an.

»Durch Kampf zum Sieg!« gibt Turek die Parole aus und sagt: »Der Gedanke, allen Feinden zu trotzen, zupfte Tag und Nacht an den klangvollsten Saiten meines Innern«. Gern lege ich für Ludwig Turek mit denen, die einer Bibliothek in Köpenick und einer Straße im Kaulsdorfer Schriftstellerviertel seinen Namen gaben, ein Gran auf die Waagschale gegen sein drohendes Verschollensein.

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