Illegalität und Kinder

War Ulrike Meinhof eine schlechte Mutter? Warum das eine Rolle spielt

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Ihren »Deutschen Herbst«, so viel kann man kurz vor Ende eines langen Jahres voller jubiläumsbedingter RAF-Geschichten sagen, haben die Deutschen gründlich verstanden. Was am »bewaffneten Kampf« nicht rein kriminell war, erklären sich die Leute aus ärztlichen Attesten oder halten es mit aller Moral für verwerflich.

Der Vorteil: Die Frage nach den politischen Gründen tritt in den Hintergrund. Anders denn als eine zeithistorische Kulisse soll man Nazivergangenheit, Notstandsgesetze, Vietnamkrieg und den real existierenden Kapitalismus der 70er Jahre nicht verstehen. Die RAF ist nicht vor allen Dingen deshalb gegründet worden, das waren nur Vorwände. Aber warum dann? Wegen der Spätfolgen einer Gehirnoperation? Wegen narzisstischer Charakterzüge?

Eine dieser »Erklärungen« passt besonders gut in diese Zeit, in der Familien ein »Erfolgsfaktor« sind und die Kindererziehung eine Regierungsaufgabe; wo »Frühwarnsysteme« nicht nur wegen Monsterwellen, sondern auch wegen Rabenmüttern eingerichtet werden. Die Gründer der RAF waren nämlich ein Haufen miserabler Eltern.

Andreas Baader zum Beispiel, über dessen Neigung zu unkorrekten Kraftausdrücken heute jeder Bescheid zu wissen glaubt. Der war Mitte der 60er Jahre mit der Kunstmalerin Ellinor Michel zusammen, 1965 kam eine Tochter zur Welt. Baader, der 1963 nach Berlin gekommen war, entschied sich für die Revolution und »Ello«, gab Töchterchen Suse ins Heim, später kam sie ebenso wie ihr Bruder zum Ehemann Michels.

Auch bei der Beschreibung von Gudrun Ensslin fehlt nur selten der Hinweis auf ein verlassenes Kind. Die Pfarrerstochter hatte mit dem Schriftsteller Bernward Vesper ein Kind, trennte sich 1968 von Mann und Sohn und zog mit Baader nach Frankfurt am Main, wo im April 1968 zwei Kaufhäuser brannten. Felix Ensslin kam nach dem Suizid des Vaters zu Pflegeeltern.

Eltern auf dem Weg in den Untergrund, zurückgelassene Kinder – damit lassen sich gut Urteile über Menschen provozieren. So etwas macht man einfach nicht. Und wer will sich schon mit den Gründen auseinandersetzen, mit den Zwängen, die eine Entscheidung für die Illegalität für Eltern mit sich bringt, den Widersprüchen zwischen Politik und Liebe, dem Problem, nicht einfach morgens im Kinderladen erscheinen zu können.

Ein paar Monate, bevor auch Ulrike Meinhof von ihren Kindern getrennt wurde, gab sie der Filmemacherin Helma Sanders ein Interview. »Da, wo politische Arbeit nicht was zu tun hat mit dem Privatleben, da stimmt sie nicht«, sagte Meinhof da, »man kann nicht antiautoritäre Politik machen und zu Hause seine Kinder verhauen. Man kann aber auf die Dauer auch nicht zu Hause seine Kinder nicht verhauen, ohne Politik zu machen.« Wie weit sind »Politik machen« und Kinder vereinbar?

Meinhof hatte zwei Töchter aus der Ehe mit dem Publizisten Klaus Rainer Röhl, die Zwillinge Bettina und Regine. 1967 trennte sich Meinhof und zog mit den Kindern nach Berlin, im Scheidungsantrag ist von »Ehebruch« die Rede. Drei Jahre später ist Meinhof bei der Befreiung Baaders aus dem Gefängnis dabei – die Geburtstunde der RAF wird für sie auch zum Startschuss einer quälenden Auseinandersetzung um die Kinder.

Erzählt wird die Geschichte heute meist als die einer Terroristen-Mutter, die der »Verschleppung« ihrer Kinder in ein palästinensisches Waisenlager zugestimmt habe, ein Schicksal, das nur durch die heldische Rettung der Zwillinge durch Stefan Aust, den »Spiegel«- Chefredakteur, früheren »kon- kret«-Mitarbeiter und Röhl-Bekannten, verhindert wurde. So ist es von drei der damals Beteiligten überliefert – Klaus Rainer Röhl, Bettina Röhl und Stefan Aust haben Bücher geschrieben, in denen es auch um die Meinhof-Zwillinge geht. Auf ihre Schilderungen stützt sich die veröffentlichte Meinung.

Nun hat Jutta Ditfurth, die auch schon so etwas wie eine linksradikale Institution ist, eine Biografie über Ulrike Meinhof vorgelegt, die eine etwas andere Geschichte erzählt: von den Sorgen einer Mutter, die Töchter dem Vater zu überlassen; von einem Sorgerechtsstreit aus der Illegalität heraus und von einer »Verschleppung« der ganz anderen Art.

Im Mai 1970 soll Baader aus dem Gefängnis befreit werden, Ulrike Meinhof ist bei dem Coup dabei – doch der verläuft anders als geplant, Meinhof muss untertauchen. Kurz zuvor hat die Mutter ihre Zwillinge bei Freunden untergebracht. Die Kinder sollen im Fall der Fälle zu ihrer Schwester Wienke kommen, so der Wunsch Meinhofs. Vater Röhl ist bemüht, das Sorgerecht vor Gericht zu erstreiten, Anwälte werden ins Rennen geschickt. Sie habe spät entschieden, schreibt Ditfurth, »ihren Anwälten offen zu sagen, warum sie auf keinen Fall wollte, dass Röhl sich um die Kinder kümmerte. (...) Sie habe sich nicht trotz der Kinder scheiden lassen, sondern um sie zu schützen«.

Röhl bekommt zunächst das Sorgerecht, im Juli entscheidet ein anderes Gericht für Meinhof, im August neigt sich das juristische Pendel wieder zu Gunsten Röhls. Die Polizei sucht nach den Kindern, wohl auch, um die Mutter zu finden. Meinhof hat sich entschieden, »die Kinder zu verstecken. Sie war überzeugt, den Sorgerechtsstreit zu gewinnen, aber jetzt befürchtete sie, dass die Polizei die Mädchen« fand und zu Röhl brachte. Die Zwillinge werden in Italien versteckt.

Während dieser Zeit ist Meinhof untergetaucht, mit anderen reist sie für ein paar Wochen nach Jordanien. Hier soll, so sagt die eine Seite, der Plan entstanden sein, die Kinder in ein palästinensisches Waisenlager zu bringen, meint: abzuschieben, zu verlassen. Baader und Ensslin hätten Druck gemacht. Ein Aussteiger der Gruppe habe dann dafür gesorgt, dass Aust die Zwillinge aus dem Versteck in Sizilien »befreien« konnte. Klaus Rainer Röhl, angeblich zufällig in Italien, kann sie dort übernehmen.

Bei Ditfurth liest sich das ein wenig anders. Die Sache mit dem Waisenlager »wäre nur eine Notlösung gewesen, es war nie eine ernsthafte Option. Es gab andere Möglichkeiten«. Auch andere berichten davon, dass Meinhof »immerzu von den Kindern gesprochen« habe, selbst Ex-Ehemann Röhl wusste noch 1974, Meinhof »hing an den Kindern mehr als eine Mutter: wie eine Glucke«. Gibt so jemand seine Zwillinge in die Unsicherheit eines palästinensischen Waisenlagers? »Im September wollte sie ihre Kinder aus Italien abholen«, schreibt Ditfurth. Noch hoffte sie auf eine Sorgerechtsentscheidung zu ihren Gunsten, die Kinder sollten bei ihrer Schwester oder bei Freunden leben können. Nur nicht bei Klaus Rainer Röhl.

War es dieser Plan von Meinhof, von dem Aust erfuhr? Oder setzte er sich in Bewegung, weil er glaubte, die Zwillinge würden nach Jordanien gebracht? Wer hat hier wen entführt, wer wen befreit? So oder so: Aust gelingt es, die Kinder in Italien in seine Obhut zu bringen und Klaus Rainer Röhl zu übergeben. Ulrike Meinhof trifft nur kurze Zeit später dort ein.

»Als sie ankam, erfuhr sie, dass ihre Kinder wenige Stunden zuvor abgeholt worden waren. Sie brach zusammen, sie hatte nicht nur ihre Kinder verloren, sie waren auch genau dort, wo sie auf keinen Fall sein sollten«, schreibt Ditfurth. Röhl, Aust und andere »hatten Fakten geschaffen, die kein Gericht mehr korrigierte«.

Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof, Berlin 2007 (siehe ND vom 22. November 2007).

Klaus Rainer Röhl: Fünf Finger sind keine Faust, Köln 1974.

Bettina Röhl: So macht Kommunismus Spaß. Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret, Hamburg 2006.

Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, München 1998.

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