Das wundervolle Rom des Ostens

Was wäre, wenn ... die Russen 1877 Konstantinopel eingenommen hätten?

  • Lesedauer: 4 Min.

Anfang 1878. Der Schriftsteller und Journalist V. I. Nemirovic-Dancenko logiert in Konstantinopol im Grande Hotel de Luxembourg. Hier besucht ihn eines Morgens General M. D. Skobelev, der von seinen Soldaten vergötterte Kriegsheld. Er ist zivil gekleidet. S.: »Ich erwarte mit jedem Tag die Anweisung, in Konstantinopol einzurücken ...« N.-D.: »Es heißt, unsere Truppen seien nicht vorbereitet.« S.: »Ich weiß nicht, wessen unsere das sind. Ich habe 40 000 Mann unter Waffen. Ich kann in drei Stunden hier sein ...«

1876 war der Balkan wieder einmal ins Zentrum der europäischen Politik geraten. Die dortigen slawischen Völker wehrten sich gegen die türkische Fremdherrschaft. In Bulgarien kam es zum Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Die europäische Öffentlichkeit reagierte sensibel. In Russland nahm man die Vorgänge südlich der Donau ebenfalls mit angespannter Aufmerksamkeit wahr, schließlich fühlte sich der Zar traditionell als Schutzherr der christlichen Bevölkerung im Osmanenreich. Außerdem war die sogenannte Orientalische Frage eine russische Schicksalsfrage, die sich um den Status der Meerengen drehte: des Bosporus und der Dardanellen. An der »Orientalischen Frage« waren aber die Seemächte England und Frankreich nicht weniger interessiert, ging es doch um die strategisch hochbedeutsame Verbindung zwischen Schwarzem und Mittelmeer. Angesichts des türkischen Strafgerichts insbesondere gegen die Bulgaren drängte die russische Öffentlichkeit den Zaren zum Eingreifen. Fjodor Dostojewski hielt in seinen Tagebüchern fest: »Es war eine hitzige und ruhmvolle Zeit: Ganz Russland erhob sich im Geist und von Herzen und das Volk machte sich ›freiwillig‹ auf, um Christus und der Rechtgläubigkeit gegen die Ungläubigen zu dienen, für unsere im Glauben und Blut brüderlichen Slawen«. Und er fügte hinzu, dass Konstantinopol, »ob nun früher oder später, unser werden muss«.

Klar war, dass jede erfolgreiche russische Intervention zugunsten der Bulgaren die europäischen Mächte auf den Plan rufen würde, denn hinter der Befreiung Bulgariens vom türkischen Joch, dem edlen Vorwand, verbargen sich die imperialen Ziele Russlands. Dafür musste zuerst für ein ruhiges diplomatisches Hinterland gesorgt werden. Österreich-Ungarn, das auf dem Balkan seine eigene Machtpolitik verfocht, und Russland einigten sich im Januar 1877 dahingehend, dass Wien im Falle eines russisch-türkischen Krieges »wohlwollendste Neutralität« üben werde. Die Russen ihrerseits gaben das gesamte Territorium Bosniens und der Herzegowina für eine österreichische Annexion frei. Auch Bismarck sicherte Petersburg Neutralität zu. Daraufhin erklärte Russland im April 1877 der Türkei den Krieg.

Am 19. Juli standen russische Soldaten auf dem strategisch wichtigen Schipka-Paß, am 28. November fiel Pleven und am 23. Dezember war Sofia erreicht. Der russische Vormarsch war nicht mehr aufzuhalten, der Weg in das nahe Konstantinopol, in »dieses Rom des europäischen Ostens, dieses Rom der Slawenheit«, war frei. Sein Anblick erschien den Eroberern »wie ein wundervoller Traum«. Mit der Einnahme der türkischen Hauptstadt wäre der Bosporus in der Hand Russlands gewesen, wahrscheinlich endgültig, nachfolgend dann auch die nördlichen Küstenstriche bis hin zu den Dardanellen. Eine Situation wäre entstanden, die auf die spätere Entwicklung und die politischen Bündnisse in Europa entscheidenden Einfluss genommen hätte, bis hin zum Ersten Weltkrieg .

Was Skobelev und Nemirovic-Dancenko zum Zeitpunkt ihres Gesprächs nicht wussten, war, dass der russische Großfürst Nikolai Nikolaevic der Ältere bereits beschlossen hatte, Ende Januar Gallipoli und Konstantinopol zu besetzen und Truppen auf das asiatische Ufer des Bosporus zu bringen. Inzwischen war aber ein englisches Flottengeschwader ins Marmara-Meer eingelaufen. Auch in Wien formierte sich nun Widerstand gegen das auf dem Balkan zu stark werdende Russland. Und weil jetzt der Zar das Eingreifen beider Mächte zugunsten der Türkei befürchten musste, verbot eine Depesche aus St. Petersburg den weiteren Vormarsch russischer Truppen. Als sich Alexander II. im Februar 1878 dann doch noch anders besann, war es zu spät.

Der kurz darauf abgeschlossene Präliminarfrieden von San Stefano, der ein Groß-Bulgarien vorsah und Serbien stärkte, löste in Wien Empörung aus. Die Londoner Reaktionen waren nicht weniger heftig. Er musste deshalb im Juni/Juli 1878 auf dem Berliner Kongress neu verhandelt werden, unter der Führung Bismarcks. Die Berliner Ergebnisse bedeuteten eine tiefe Demütigung Russlands, dessen Rolle als Hegemon der christlich-orthodoxen Völker auf dem Balkan ausgespielt war. Seine nach dem Krimkrieg begonnene Abkehr von Europa setzte sich fort. Und der Balkan wurde zu einem Pulverfass.

Das Meerengenproblem aber sollte Petersburg und dann Moskau noch lange beschäftigen. Um die Jahreswende 1896/1897 trug sich Nikolai II. mit dem Plan, den Bosporus im Handstreich zu nehmen. Und 1945 verlangte Stalin auf der Potsdamer Konferenz eine gemeinsame sowjetisch-türkische Verteidigung der Meerengen mit einem eigenen sowjetischen Stützpunkt. Fast wäre damit das nach 1878 in St. Petersburg aufgekommene geflügelte Wort in Erfüllung gegangen: »Der Weg nach Konstantinopol führt durch das Brandenburger Tor.«

In der Reihe bereits erschienen: Frank Pais, Caesar, Kohl, Alexander, Bismarck, Hitler, Kurt Schumacher; demnächst: Wahrsagerei oder Gedankenexperiment?

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