Das ist das Haus vom Nikolaus ...

Vorweihnachtsstimmung ganz eigener Art in einer türkischen Kleinstadt

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.
... und auf dem Marktplatz / Fotos: Michael Müller
... und auf dem Marktplatz / Fotos: Michael Müller

Was haben Bari in Italien und Brauweiler in Deutschland, Saint-Nicola-de Port in Kroatien und Wolodga in Russland, Dalarna in Schweden und New York in den USA miteinander gemein? Den Heiligen Nikolaus. Hier liegen seine Gebeine, dort steht seine älteste Skulptur nördlich der Alpen, da ist die prachtvollste Ikone des Ostens, anderswo soll gar seine Heimat sein und überm großen Teich ist er der Stadtpatron.

Das historische Haus vom Nikolaus steht aber weder hier noch dort, sondern an der türkischen Ägäisküste. Im antiken Ort Myra, dem heutigen Demre, etwa auf der Hälfte des lykischen Küstenweges von Antalya im Nordosten und Patara im Westen, lebte und wirkte Bischof Nikolaus von etwa 280 bis etwa 320 unserer Zeit.

Helva und Bakklava
In der Nähe der St. Nikolaus-Gedächstniskirche steht ein altes Myra-Ortsschild herum, selbst schon eine Reliquie und nur noch für den Pilgerverkehr da. Ein paar Grundschulmädchen kommen vorbei. Ob sie denn in den nächsten Tagen auch Süßigkeiten vom Nikolaus bekämen, frage ich. »Nein, wir haben immer viel Helva und Bakklava zum Ramadan«, freuen sie sich sichtlich schon auf den im nächsten Jahr. Den Heiligen Nikolaus kennen sie wohl, sagen sie. Doch nicht vom steinernen oder bildhaften Antlitz in der Kirche nebenan, sondern vom Marktplatz ihres Heimatstädtchens. Dort hat die Gemeindeverwaltung, sich der Touristenträchtigkeit des frühchristlichen Heiligen ebenso bewusst wie des Durchschnittsgeschmacks eben dieser Touristen, einen Nikolaus hingestellt, wie ihn die Coca-Cola-Reklame 1931 erstmals kreierte – und wie er seither im roten Rock und Zipfelmütze durchs Abendland geistert.

Jener ist der richtige, also der historische natürlich nicht. Eher ist er oder präziser: sind sein Geist, seine Aura, sein Mythos schon in besagter Kirche nebenan, der St. Nikolaus, zu spüren oder zumindest zu ahnen. In langen Schlangen stehen russische Pilgerinnen an, um an seinem Grab zu beten und zu bitten. Sie legen nach orthodoxer Sitte eigene Broschen und irgendwelche Nippes von Daheimgebliebenen auf einen marmornen Sarkophag, so dass er etwas abstrahle auf die Dinge, damit sie Böses abhalten und Gutes anziehen mögen. Dass es laut jüngster archäologischer Daten mit ziemlicher Sicherheit nicht das tatsächliche Grab des Nikolaus' ist, tut dabei nichts zur Sache.

»Wir kommen aus der Gegend von Werchoturje im Gebiet Jekaterinburg (ehemals Swerdlowsk - d. A.)«, erzählt mir dann draußen eine der Frauen. »Auch zu unserem St.-Nikolaus-Kloster zu Hause kommen viele Pilger. Aber alle von uns wollen gerade hierher nach Myra, wo der historische Bischof tatsächlich wirkte, wo er seine Wunder vollbrachte.«

Warum gerade der Heilige Nikolaus eine solche Anziehung auf Russen ausübe, will ich von den Frauen aus dem Ural weiter wissen? Denn nicht nur in der Kirche, sondern im ganzen Städtchen, ja am ganzen langen Küstenstreifen wimmelt es geradezu von russischen Touristenbussen. »Wissen Sie denn nicht, dass Nikolaus, der Wundertäter, der Lieblingsheilige unseres letzten Zaren Nikolaus gewesen ist? Und dieser Nikolaus der Zweite wurde dann auch noch bei uns in Jekaterinburg 1918 von den Bolschewiki ermordet«, erhalte ich eine kleine Lektion.

Russen überholen Deutsche
Allerdings reise bei weitem nicht die ganze, Jahr für Jahr größer werdende russische Touristenschar als Pilger hierher, betont Mirjalol Hasanow, russischer Generalkonsul in Antalya, ausdrücklich. »Wir Russen kommen ganz einfach mit der türkischen Kultur gut klar, und dies gilt übrigens auch umgekehrt«, ist er sich sicher. »Deshalb machen Russen hier gern Urlaub, direkt am Meer oder auf Rundfahrten.«

Das betrifft nicht etwa nur Neureiche; die kaufen sich eher in Hotelketten und Nachtclubs ein. Nein, es sind vor allem Iwan und Nina Normalverdiener und -verbraucher. Sonst wäre kaum zu erklären, dass sie an Antalyas Küsten hinter den Deutschen inzwischen auf Touristenplatz zwei rangieren. Vielleicht sind sie Ende 2007 schon auf Platz eins, denn die bisherige Statistik geht nur bis Ende Juli (Deutsche: 1,148 Millionen, Russen: 992 000). Rechnet man die Ukraine, Belarus und Kasachstan hinzu, so stehen die »Sowjets« ohnehin schon ganz vorn.

Die türkische Tourismus- und Pilgerbranche hat sich sprachlich und geschmacklich längst auf diese Klientel eingestellt. Alle Aufschriften an Kiosken sowie Weg- und Objektbeschreibungen, die Speisekarten und Spendenbetteleien (»Ein Säckchen Erde aus dem Kirchgarten für fünf Lira.«) gibt es neben Türkisch oft nur noch in Russisch. »Russki jasik adin is samich waschnich jasykow mira« (Russisch ist eine der wichtigsten Sprachen der Welt.), kommt es dem jungem Verkäufer an seinem großen Souvenirstand, der stark parfüm- und blusenlastig ist, verbindlich und auch recht flott von den Lippen. Er habe Russisch »a. d. S. gelernt«, fügt er schmunzelnd auf Deutsch, das hier alle noch viel besser beherrschen, an: »auf der Straße«. »But English is still important as a matter of course« (Nach wie vor ist natürlich Englisch wichtig.), fügt er geschäftig an, um mit der lauernden Frage zu schließen: »Wollen Sie Ihrer Frau nicht auch was mitbringen ...?«

Vom Mythos zum Kitsch
Natürlich hatte der historisch verbürgte Bischof gleichen Namens in den sagenhaften Überlieferungen, die zu seiner Heiligsprechung führten, mit dieser Art von Schenken gar nichts zu tun. Bestenfalls soll er Kinder, Schwache, Unterdrückte, Kranke gerettet haben, indem er heimlich und unerkannt Lösegeld zahlte oder Schulden beglich. Aber über diesen Mythos legte sich in 1500 Jahren Schicht auf Schicht: fromme Inbrunst und kitschige Verniedlichung, pädagogische Instrumentalisierung (man denke an die Rute) und gnadenlose Vermarktung. Doch wie stellte Franz Fühmann ganz lakonisch in seinem famosen Berliner Mythosvortrag von 1974 fest: »Wenn auch nur ein Splitterchen Mythos in der kommerziellen Unterhaltungswelt aufglänzt, dann übt dieser Glanz eine unerhörte Faszination aus.« Denn das menschliche Bedürfnis nach Mythen, auch in ihrer heruntergekommensten Form, nämlich als Kitsch, sei schier grenzenlos.

Auch die Holländer
Übrigens war ich gar nicht wegen St. Nikolaus nach Lykien gekommen, sondern wegen Likya Yolu, des Lykischen Weges. Auf dem kann man über 400 Kilometer zu Fuß oder per Rad immer in Sichtweite zur Ägäis lustwandeln oder -fahren. Es ist eine Geschichtsreise im Zeitraffer, denn alle waren sie hier und alle haben sie sich irgendwie verewigt: die Lykier und die Perser, Alexander, die Griechen, die Ptolemäer, Römer, Byzantiner, Osmanen und Türken.

Heute sind übrigens neben vielen anderen auch die Holländer da, wie ich auf dem Weg zurück vom Nikolaus in Richtung Antalya kurz vor Kumluca merke. Sie kommen mir per Mountainbike entgegen, stoppen und fragen: »Wie weit ist's noch zu Sinterklaas?« Dann fahren sie fröhlich von dannen, als sie hören, dass sie schon in drei Stunden bei ihm sind. Und in Europa müssen die Leute immerhin noch bis zum 6. Dezember oder gar bis Heiligabend auf ihn warten.

Infos: Türkisches Fremdenverkehrsamt, Tauentzienstraße 9-12, 10789 Berlin, Tel.: 030 - 2 14 37 52, www.turizm.gov.tr, www.reiseland-tuerkei-info.de in allen Reisebüros im Neckermann-Angebot.

Nachbarkinder von St. Nikolaus: Ihre Süßigkeiten gibt's zum Ramadan.
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