PLATTENBAU

  • Walter Willems
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwei Glanzzeiten prägen den Ruf von San Francisco bis heute. Mitte des 19. Jahrhunderts lockte der Goldrausch Zehntausende Glücksritter aus aller Welt in die Stadt. Gut 100 Jahre später folgte ein Rausch anderer Art, und auch diesem Lockruf folgten Tausende vorwiegend junge Menschen in der Hoffnung, hier das verlogene Establishment samt Krieg und Konsumwahn abzuschütteln. Sprachrohr dieser Generation war ihre Musik.

Zum 40. Jahrestag des Summer of Love hat Rhino nun eine opulente 4-CD-Box veröffentlicht. 77 Songs, aufgenommen von 1965 bis 1970, hat das Label aus den Archiven gegraben, und das Ergebnis ruft das Lebensgefühl jener Jahre wieder wach. Dabei hat Rhino der Verlockung widerstanden, einfach eine verkaufsträchtige Kompilation jener Greatest Hits zusammenzustellen, die sowieso schon jeder kennt.

Scott McKenzies kommerzielle Edelschnulze »San Francisco« fehlt glücklicherweise, stattdessen bemühte man sich um den authentischen Sound jener Stadt, auf die ab 1965 zunächst das ganze Land und dann die ganze westliche Welt mit einer Mischung aus Faszination und ungläubigem Staunen starrte. »Because something is happening here, but you don't know what it is, do you, Mister Jones?«, spotten die Grass Roots in ihrer hörenswerten Fassung von Dylans »Ballad of a Thin Man«.

Symbolträchtig eröffnet und abgeschlossen wird die Box durch zwei Versionen der Hymne »Get Together«, anfangs in der rohen, ungeschliffenen Urfassung von Dino Valenti, am Ende dann in dem ausgefeilten Hit der Youngbloods. Natürlich sind mit Jefferson Airplane, Grateful Dead und Quicksilver Messenger Service auch die Aushängeschilder des San Francisco Sound gleich mehrfach vertreten. Aber statt bequem etwa den Airplane-Hit »Somebody To Love« aufzulegen, bietet der Sampler die mindestens ebenbürtige Originalversion der Great Society.

Zudem stellt die Box viele unbekannte Gruppen vor: Den Bands aus dem Umland San Franciscos, von denen Count Five und die Chocolate Watch Band noch die namhaftesten sind, widmet Rhino eine ganze CD. Und noch etwas wird beim Hören der Nuggets deutlich: Zwar kommen die Gruppen geografisch aus derselben Gegend, aber musikalisch treffen hier Welten aufeinander: Der erdige Folkrock der Charlatans ist meilenwert entfernt vom jazzigen Latino-Sound Carlos Santanas. Das sphärisch-psychedelische Orgel-opus »Section 43« von Country Joe & The Fish hat klanglich gar nichts zu tun mit dem gitarrenorientierten treibenden Rock 'n' Roll der Flamin' Groovies. Und der vor Energie schier berstende Soul von Sly Stone steht in scharfem Kontrast zu den kühl durcharrangierten Popsongs von We Five.

Gemeinsam aber ist den Stücken die optimistische Aufbruchstimmung, jenes Gefühl des »Alles ist möglich«, das das Bild dieser Generation bis heute prägt. Insofern ist die Box nicht nur eine liebevoll zusammengestellte Sammlung guter Lieder, sondern auch ein zeitgeschichtliches Dokument.

Various Artists: Love Is The Song We Sing: San Francisco Nuggets 1965–70 (4-CD-Box, Rhino)

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