nd-aktuell.de / 08.12.2007 / Kultur / Seite 17

Vertreibung aus Bitterfeld

René Heilig
Die Familie: Hien (14), Hieu (7) und Mai (13). Mutter und Vater sind seit 1992 in Deutschland und sollen nun abgeschoben werden. Sie haben Angst - und viele Freunde, die Behördenwillkür verhindern wollen, sei sie noch so gesetzlich verbrämt.
Die Familie: Hien (14), Hieu (7) und Mai (13). Mutter und Vater sind seit 1992 in Deutschland und sollen nun abgeschoben werden. Sie haben Angst - und viele Freunde, die Behördenwillkür verhindern wollen, sei sie noch so gesetzlich verbrämt.

»Herr Nguyen und Frau Phuong reisten 1992 nach Deutschland ein und beantragten jeweils erfolglos ein Asylverfahren. Seit 1994 sind sie rechtskräftig zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet. Sie kamen ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nach, so dass ihre zwangsweise Aufenthaltsbeendigung eingeleitet werden musste. Die Ausreise war zunächst nicht möglich, weil sich Vietnam völkerrechtswidrig weigerte, seine in Deutschland ausreisepflichtigen Staatsangehörigen zurückzunehmen. Dieser Zustand änderte sich erst nach dem Inkrafttreten des Rücknahmeabkommens zwischen Deutschland und Vietnam.«

Das Behördendeutschgestammel steht in einem Schreiben des Magdeburger Innenministers Holger Hövelmann (SPD), einstiger Politoffizierlehrling der NVA, an den Bitterfelder Bürgermeister Dr. Werner Rauball (SPD). Es geht um:

Thi Thu Hien, geboren in Dessau, 14 Jahre alt. Sie geht in die 9. Klasse, will Visagistin werden.

Es geht um Thi Tuyet Mai, geboren in Wolfen, 13 Jahre alt. Sie will Lehrerin für Sport und Kunsterziehung werden.

Es geht um Duc Hieu, 7 Jahre alt, er kam ebenfalls in Wolfen zur Welt und möchte derzeit gerne Arzt werden. Die Lieblingsspeise der drei? Wahlweise: Pommes oder Spaghetti mit Ketchup. Kann man deutscher sein, falls das überhaupt wichtig ist?!

Was Hieu denkt, träumt, hofft, ist irrelevant. Hieu ist ein Fremder, ein Illegaler, ein Behördensubjekt, das Arbeit und Ärger macht, das gegen Gesetze verstoßen hat, noch ehe es auf der Welt war. So wie seine Schwestern. Mai hat zwar die Turn-Landesmeisterschaft in Sachsen-Anhalt gewonnen, wofür man sie in ihrem Wohnort Bitterfeld tüchtig gelobt und rumgezeigt hat, doch auch sie ist ein gesetzlich-nachweisbarer Fremdkörper in unserem Land. Die Verfügung ist ergangen: Raus mit denen! Raus aus Bitterfeld, raus aus Sachsen-Anhalt. Raus aus Deutschland!

Raus müssen auch die Eltern, zurück nach Hanoi, das Mutter und Vater vor Jahrzehnten verlassen haben, um in Moskau zu heiraten und dann endlich im Paradies Deutschland anzukommen. Hier hoffte das Paar, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Und das hieß Kinder zu bekommen, die durch eigenen Fleiß und Freundlichkeit glücklich werden.

Doch die Familie Nguyen gehört hier nicht her, sagen die Behörden. Allein die Älteste darf bleiben. Sie bekommt einen Vormund gestellt. So will es irgendein Bleiberechtsgesetz, das kaum jemand kennt – außer der eilfertigen Landesverwaltung, die »Altfälle aufarbeitet«. Das Gesetzt besagt wohl: Wer am 1. Juli 2007 vierzehn Jahre alt war, darf in Deutschland bleiben.

Es gibt viele schlechte Worte über Bitterfeld. So sehr man sich auch müht, zumindest zu dieser Jahreszeit lassen sich die Vorurteile nicht guten Gewissens ausräumen. Der Markt vor dem Rathaus verströmt Kellergeruch. »Rausverkauf, alles 8 Euro«, steht auf einem Schild über lustlos gestapelten Taschen minderer Qualität. Vor allem dem Leben nach alte Kunden schleichen durch die Standreihen. Sie halten ihr Geld beisammen. Weihnachten soll schön sein, jedes Paar eigennützig gekaufter Socken würde den Gabentisch ihrer Enkel nur noch trostloser erscheinen lassen. »Mäc Geiz« gilt als das Einkaufsparadies am Markt.

Die Jungen, die Gebildeten und von den sozialen Verhältnissen bereits Gebogenen, die, die Ingenieurqualitäten vorweisen können und daher noch taugen zur Verwertung im Chemiepark, schinden sich unter Tarif und reden sich ein, zu den Gewinnern der Einheit zu gehören. Doch mindestens 15 Prozent der Bevölkerung, so sagt es die langfristige Statistik, werden auch auf Dauer keine Chance mehr haben, als gleichwertig anerkannt zu sein.

Des einen Pein ist des anderen Chance. Die hat Familie Nguyen ergriffen und einen kleinen Laden in der Nähe des Marktplatzes aufgemacht. »M&H Minishop« bietet alles – von der grellbunten Kunstblume bis zum fleischfarbenen Büstenhalter der Volumen-Oberklasse. Und im Laden stehen zwei freundliche Vietnamesen, die sich bemühen, jenen Kundenwunsch zu erfüllen. Was so einfach nicht ist, wenn der Ladeninhaber bei der Behörde um Erlaubnis fragen muss, will er nach Leipzig oder Berlin fahren, um Waren einzukaufen. Einen Pass haben er und seine Frau nicht, nur eine Karte, die ihn als Mensch dritter Klasse ausweist und die behördlich nur im Rhythmus von zwei oder drei Wochen vergeben wird.

Doch der »M&H Minishop« läuft, denn wer nichts hat und doch was braucht, geht in Bitterfeld gern zu »den Vietnamesen« einkaufen, die keiner mehr – verächtlich wie nach den Wendezeiten – »Fitschis« nennt. Kurzum, die Familie Nguyen hält sich über Wasser, zahlt Ladenmiete und Steuern, ist gesetzestreu ... Okay, das letzte Wort streichen wir und packen alles auf den Tisch: Ja, der Familienvater hat illegal Zigaretten verkauft. Ja, er wurde erwischt. Ja, er wurde bestraft. Ja: Das Urteil ist nach zehn Jahren aus dem Strafregister gelöscht.

Und seine Frau? Oh Gott, die hat »Schlimmes« begangen. Sie hat, so stellt es der »Staat gegen Frau Phuong« dar, ihren Namen um einen Buchstaben verkürzt, um so die »Rücknahme« durch Vietnam zu behindern. Skandal! Ihre Strafe wird erst im kommenden August gelöscht. Das ist eine Formsache, die Behörden bleiben stur: In der »Angelegenheit der ausreisepflichtigen vietnamesischen Familie Nguyen/Phuong...« wir kennen Hövelmanns Gestammel...

Doch der Minister, der da nicht wie ein Mann, sondern nur wie eine Bürokratenseele entscheidet, kann sich auf Stellungnahmen der Härtefallkommission und des Petitionsausschusses des Landtages berufen. Deren Mitglieder lieber greinend heimgehen sollten, bevor sie ihren Job weiter so schlampig fortführen, wie im anstehenden Fall.

Das oder Ähnliches vernimmt man jedenfalls in Bitterfeld – beim Fleischer, der einen Flyer (pro Bleiberecht) ins Schaufenster klebt, vom vietnamesischen Besitzer des Dao Mai-Ladens gegenüber, der ähnliche Waren wie der »Mini Shop« vertreibt, das sagen Dachdecker, Bäckersfrauen, Kunden, Passanten. Das sagen die Leute von der LINKEN, die SPD bringt das nicht anders rüber, der zuständige Landtagsabgeordnete der CDU setzte seinen Namen auf die Liste der Pro-Bleibe-Erstunterzeichner ebenso wie Unternehmer und Schuldirektoren.

Wie borniert muss man sein, um in einem Magdeburger Regierungssessel sitzend, zu glauben, man könne gegen die Bürger, die Mitbürger schützen, regieren zu können?! Der Herr Ministerpräsident von der CDU täte gut daran, zu handeln, ehe die Dümmsten der Seinen den letzte Rest von Demokratieglauben verspielen.

Die Volksseele brodelt, Parteien sind längst in einer Front zum Schutz der Menschenwürde aufmarschiert, es bilden sich angeblich Unterstützergruppen, die sich der Polizei in den Weg stellen werden, wenn die heimlich anrücken, um die Familie »abzuholen«.

Landrat Uwe Schulze, er kommt aus Richtung DDR-Bauernpartei, sträubt sich keineswegs gegen vernünftige Einsichten, die er längst mit der Mehrheit in seinem Regierungsbezirk teilt. Dennoch ist er erschrocken, als der Mann vom ND von »Vertreibung« spricht, »hart an der Grenze zur Deportation«. Ja! Das klingt nach zumindest bürokratisch-herzlosem Verhalten, das in Kauf nimmt, wenn Nachbarn, wenn Mitbürger in Vietnam in ein bodenloses Loch gestoßen werden: Arbeitslos, mittellos, verschrien als Verräter, die Kinder ohne Chance auf Bildung und Zukunft. Landrat Schulze geht so weit, wie er sich traut, und verspricht: »Bis Weihnachten ist die Familie sicher und danach bedarf es langer Überlegungen, wie man der Gerechtigkeit ein wenig näher kommt ...«

Schade, der Mann mit Verstand und partiellem Mut, den sein Parteifreund und Landesvater aufbringen sollte, kann leider nicht kommen zum Weihnachtsschauturnen am Sonntag. Denn dort kann man sehen, wie Integration erfolgreich gestaltet wird. Der Bitterfelder TSV Einheit 05 führt es vor. Hien und Mai, die beiden Mädchen der Familie Nguyen, wirbeln dort wie Elfen über Matten, Barren und Schwebebalken. Und mit ihnen Kinder aus acht Nationen. Deutsche, Russen, Türken, Kurden, Ukrainer, Kasachen … Zum Schauturnen hat Dimitri, ein arbeitsloser Schneider aus Taschkent, Kostüme genäht, die Musik von der CD ist englisch, die Trainer verschaffen sich mit lautem Deutsch Gehör.

»Integration durch Sport« ist eine Initiative des Landessportbundes, die Truppe in Bitterfeld lebt sie. Stefanie und Kathi Hartwich, Mutter und Tochter, sind Übungsleiter und sie haben wohl zuerst bemerkt, »dass mit den Mädchen etwas nicht stimmt«. Auch die Präsidentin des TSV, Ingrid Appenroth, hatte »so ein Gefühl« und verspürte es auch an der Schule, an der sie Direktorin ist. »Die Kinder lernen gut, es gibt keinen Grund zur Klage.«

»Wir schauen jetzt jeden Morgen, ob bei den Nguyens Licht brennt«, sagten die Mädchen aus dem Sportverein, denn auch sie haben Angst, Freunde zu verlieren.

Ist es so schwer für verantwortliche Politiker zu begreifen, dass nicht Menschen für Gesetze geschaffen worden sind?! Und dass man mehr verlieren kann, als nur sein Gesicht?!


»Ich möchte nicht ohne meine Eltern und Geschwister leben. Unsere Heimat ist Bitterfeld. Wir wollen hierbleiben. Bitte helft mir, bitte helfen Sie uns!«
Nguyen, Thi Thu Hien

»Eine gut integierte Familie auseinanderzureißen, kann nach meiner Auffassung nicht im Sinne des Gesetzgebers uns auch nicht im Interesse des Landes Sachsen-Anhalt sein und widerspricht eklatant meinem Verständnis des Artikels 6 Grundgesetz!«
Jan Korte, Linkspartei, Mitglied des Bundestages

»Es handelt sich um ein laufendes Verfahren. Aber ich handle so, dass mein Wunsch Vater des Gedankens ist. Ich will eine menschliche Lösung.«
Uwe Schulze, (CDU), Landrat

»Sachsen-Anhalt hat seit der Wende ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Und wieviele gute Schüler müssen wir noch vertreiben, um bei PISA ganz unten durch zu sein?!«
Werner Rauball, (SPD) , Bürgermeister von Bitterfeld

»Ich fass' es nicht ? das ist doch widerlich!«
Stefanie Hartwich, Übungsleiterin

»Die Familie will kein Geld vom Staat, sie zahlt Steuern.«
Dae Thong, Nachbar und Geschäftsmann

»Meine Tochter hat durch die Hilfe der beiden Mädchen Anschluss im Sportverein gefunden. Ich bin tief bewegt und traurig über solche gemeinen Entscheidungen.«
Kathlen Köppchen, Mutter