Eine Revolution für das Grundgesetz

Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke und Paul Schäfer über Nation, Nationalstaat und Europäische Union

  • Lesedauer: 9 Min.
Eine Revolution für das Grundgesetz

Die Debatte um Nationalstaat und Nation begleitet die Linke von ihrem Beginn an. Verbunden mit der »Europafrage« hat sie neue Zuspitzungen erfahren.

Vieles – vom Verdikt »vaterlandslose Gesellen« gegen Bebels SPD, der Verbrennung von Büchern und der Ausbürgerung humanistischer Eliten bis zum »Geht doch nach drüben!« – zeigt: Weite Teile der Bourgeoisie wollten nie mit der Linken unter dem Dach einer deutschen Nation zusammenleben. Darunter haben Linke gelitten, körperlich und geistig, im Exil ihrer Wurzeln und Sprache beraubt. Nation, Nationalstaat und erst recht Heimat bekamen unter Linken, beileibe nicht allen, einen verständlicherweise schlechten Klang. Aber, wenn aus dieser antipodischen Fixierung Humanisten heute die Nation den antidemokratischen Nationalisten, den Nationalstaat den entgrenzenden Sozialstaats-Abwicklern (z. B. via EU-Dienstleistungsrichtlinie und Steuerdumping) und Heimat sowie Volkslieder den mystischen Kameradschaften von rechtsaußen kampflos überlassen, wäre dies auch ein später Triumph der Nazis.

Die Organisation der menschlichen Gesellschaft in Staaten ist nach Hegel eine historische Tatsache und kann daher nicht weggedacht werden. Man könne sich demnach nicht für oder gegen den Staat, sondern nur für den einen oder für einen anderen Staat entscheiden. Hegel lehrt zudem, Staaten mit Individuen zu vergleichen. Wie Individuen können auch sie in Konflikte miteinander geraten, sich verbünden und sich auch wieder voneinander trennen. Sie können untergehen bzw. auf den Status bloßer Regionen oder abhängiger Teilstaaten herabsinken. Auch so manches deutsche Bundesland blickt auf eine lange einzelstaatliche Geschichte zurück. Und natürlich können Staaten auch neu entstehen. So stellt sich uns heute die Frage, ob wir mit der Europäischen Union Zeuge eines solchen Staatsbildungsprozesses werden.

Eine Diskussion über Nation und Nationalstaat (= national verfasster Flächenstaat – auch mit Mehrsprach- und Vielvölker-Hintergrund, wie z. B. die Schweiz) kann nur auf Grundlage der konkreten Analyse einer konkreten Situation geführt werden. So lag der von Marx und Engels gebilligten Zustimmung zur deutschen Einigung unter preußischer Führung eine spezifische Einschätzung zu Grunde, die ihnen die undemokratische Form als hinnehmbar erscheinen ließ. In einem ganz anderen Kontext stand die Untersuchung des führenden österreichischen Sozialisten Otto Bauer über die Nationenfrage am Beginn des 20. Jahrhunderts. Es interessierte ihn, ob sich Nationen auch im Rahmen von multiethnischen Staaten – im damaligen Russischen Reich und in der Donaumonarchie – entwickeln können. Eine noch heute aktuelle Frage. Eine andere Konstellation stellte sich in Nachkriegsdeutschland. Hier war zu beantworten, ob die unterschiedliche soziale Entwicklung von BRD und DDR es rechtfertigt, zugleich auch von der Herausbildung zweier deutscher Nationen zu sprechen.

Eine unvoreingenommene Bewertung der gegenwärtigen Situation muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass sich der Nationalstaat heute keineswegs auf dem Rückzug befindet. Die Zahl souveräner Staaten ist von drei Dutzend 1945 auf heute gut 200 gestiegen. Dies war zunächst auf den Prozess der Dekolonisation zurückzuführen. Auch dadurch wurden Nationalstaaten zugleich Träger und Repräsentanten unterschiedlichster Kulturen und selbst von Weltreligionen. 1945 war dies noch ganz anders. In Europa hat sich die Zahl der Staaten durch die Auflösung Jugoslawiens und der Sowjetunion nach 1990 verdoppelt. Wir teilen den »Mangel an Begeisterung« eines Eric Hobsbawm über diese jüngere Entwicklung, weil sie mit Erbfolgekriegen verbunden war und auf einer Renaissance des überlebten Nationalismus des 19. Jahrhunderts gründete.

Die Staatenbildung als Überwindung des Kolonialismus ist eine andere Geschichte. Die sozialistische bzw. kommunistische Weltbewegung hatte an dieser Entwicklung entscheidenden Anteil. Ausgangspunkt dafür war der »Kongress der unterdrückten Völker des Ostens« 1920 in Baku. Die junge Sowjetunion wurde seinerzeit zum großen Hoffnungsträger der unterdrückten und im kolonialen Joch gehaltenen Völker. (Im Nachhinein betrachtet war es zugleich die große Leistung der kommunistisch regierten Länder in Vielvölkerstaaten, die verheerenden Wirkungen des Nationalismus in deren Inneren zu begrenzen.)

Aus linker Sicht kann es nicht darum gehen, der Idee eines ethnisch und sprachlich homogenen Nationalstaates nachzueifern.

Es geht um Dialektik und Zusammenhänge: von Kolonialismus und Antiimperialismus, von »Nationaler und sozialer Befreiung« (Titel des KPD-Programms vom 24.8.1930). Das Verlangen nach politischer Emanzipation war eng mit dem Bestreben unabhängiger gesellschaftlicher/wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. Wer den Weg eigenständiger wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung beschreiten wollte, musste das Joch der Kolonialmächte und deren direkte Militärherrschaft abschütteln. Und umgekehrt: Wer »Nation« werden wollte, musste den Emanzipationsbedürfnissen der elenden Bevölkerung Rechnung tragen. Dies verband die politischen Eliten des unterdrückten Südens untereinander und mit den Kämpfen der Arbeiterbewegung in den Zentren des Nordens. Reflektiert wurde es in der Ergänzung des Kampfrufes »Proletarier aller Länder vereinigt euch« durch den Einschub »und unterdrückte Völker«. Die Führungen nationaler Befreiungsbewegungen haben sich daher meist auch als Internationalisten verstanden. Doch was bleibt davon heute?

Die Formen der Abhängigkeit haben sich erheblich verändert, aber die Abhängigkeit bleibt. IWF-Bevormundungsprogramme, das selbsterklärte Recht der NATO-Staaten, sich über die Souveränität der Einzelstaaten bei Bedarf hinwegzusetzen, die Errichtung von Quasi-Protektoraten, der immer schärfer werdende Zugriff des expansiven Kapitalismus des Nordens auf die Ressourcen des Restes der Welt belegen es. Wenn Venezuela und Bolivien heute ihre Energiequellen »nationalisieren« und sich auf ihre kulturellen Wurzeln besinnen, dann geht es genau um diesen Prozess der Herauslösung aus Abhängigkeit und Ausbeutung unter Führung der jeweiligen Linken. Diese hätten in Kuba ihre Führung ohne antiimperialistisch-nationale Identität längst verloren.

Die Linke in den kapitalistischen Metropolen muss diesen Emanzipationsprozess mit Verständnis, mit Sympathie und grundlegender Solidarität begleiten und darf sich darin auch nicht durch instrumentelle Menschenrechtskampagnen irre machen lassen. Der schreiende Widerspruch zwischen den Wohlstands- und den Armutszonen auf dem Globus, die unmoralische Politik der doppelten Standards rief aber stets auch politische und ideologische Formen des Widerstands hervor, die mit unseren Ansprüchen auf eine zukunftsorientierte, demokratisch-rechtsstaatliche Entwicklung zumindest punktuell kollidieren können. Die Linke in Deutschland ist daher gut beraten, wenn sie angesichts der Spannbreite der »gegenhegemonialen« Kräfte konsequent ihr eigenständiges Programm verfolgt: Der Kampf für soziale Gleichheit und demokratische Freiheit ist und bleibt bei uns eng verbunden; die in die Matrix des Nationalstaats hineingekämpften Standards und Rechte sind von daher zu bewahren und auszubauen.

Eine auf Expansion nach außen gerichtete Politik führt regelmäßig auch zur Einschränkung, gar zur Aufhebung dieser Rechte im Inneren des aggressiven Staates. Die beschönigend Globalisierung genannte Verlagerung von immer mehr Entscheidungen auf abgehobene und weitgehend demokratisch unkontrolliert arbeitende internationale Entscheidungsträger wie EU, OECD, WTO oder G8 entzieht nationalstaatlichen Gremien zudem wichtige Entscheidungsbefugnisse, vor allem in Wirtschafts- und Finanzfragen und in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sich dagegen zur Wehr zu setzen, hat meist nichts mit engstirnigem Nationalismus zu tun, sondern mit Verteidigung von Demokratie.

Mit den Nationalstaaten hat sich ein politischer Handlungsraum, geprägt durch Gesetze, Kultur, durch Erfahrungen und Lebensweisen, herausgebildet. Mit der Europäischen Union ist ein neuer Raum der Klassenkämpfe entstanden, der Schritt für Schritt, vorangetrieben durch das Kapital, die nationalen Grenzen gesprengt hat. Die Hülle »Nationalstaat« war zu eng für das Expansionsstreben des Kapitals. Die Arbeiterbewegung wird noch gehörig Zeit und Empirie benötigen, um sich entsprechend auf diese neuen Handlungsbedingungen einlassen zu können. Weil wir daran arbeiten müssen, ist für uns die Partei der Europäischen Linken so zentral. Aber ein nüchterner Blick sagt uns auch, dass die Einzelstaaten auf längere Sicht die Hauptarena der sozialen und politischen Kämpfe bleiben werden.

Es ärgert uns, wenn auch Linke undifferenziert alles Moderne, Schöne und Fortschrittliche Europa bzw. der EU zuschreiben. Der Chic ersetzt die Analyse.

Europa als neuer Raum von Klassenkonflikten macht es nicht nötig, darüber eine Soße neuer Mythen und Verklärungen zu gießen. Weder ist der Nationalstaat aus seinem Wesen her besonders reaktionär – wenn die Unterdrückungsform jedes Staates anerkannt wird – noch ist Europa vom Wesen der EU her besonders fortschrittlich. Linke sollten vielmehr nüchtern analysieren, welche Ebene jeweils die größten Potenziale für Demokratisierung, für Frieden und die Entfaltung sozialer Kämpfe bietet. Große Hoffung wird heute darauf gesetzt, dass der Souveränitätsverlust von europäischen Nationalstaaten eines Tages durch eine Weiterentwicklung der Europäischen Union aufgehoben wird. Doch zur Herausbildung einer wirklichen europäischen Demokratie fehlt es noch an einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit sowie einer auch nur kritischen Medienlandschaft. Sie existiert heute erst in bescheidensten Ansätzen. Vor allem fehlt es der EU an der besonderen, reziproken Treuepflicht einer modernen republikanischen Staatsbürgerschaft. Daran ändert auch der »Reform«-Vertrag nichts. Diese Treuepflicht bestünde darin, dem Staatsbürger im Austausch für seine Unterstellung unter die staatliche Hoheitsgewalt entsprechend sozialen Schutz zu gewähren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist diese reziproke Treuepflicht in Absatz 1 von Artikel 20 fest verankert: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«.

Wir sind solidarisch mit den Völkern, deren direkte Konfrontation mit den USA engere Kampfbedingungen diktieren. Trotz dieser Bedrohung sehen einige (z. B. Venezuela und Bolivien) die Notwendigkeit, ihre Verfassungen zu ändern, um zu radikaldemokratischen, sozialen Fortschritten zu gelangen. Jedoch: »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« heißt in Deutschland, die Realität unseres Landes an die bestehende Verfassung und nicht die Verfassung an die jetzigen Kräfteverhältnisse anzunähern, in denen z. B. Gewerkschaften eine historisch einmalige Schwäche verzeichnen. Vermutlich braucht die Durchsetzung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Sozialstaats und der Sozialismus-Option unseres bestehenden Grundgesetzes eine ähnliche Mobilisierungsanstrengung wie die Durchsetzung einer veränderten Verfassung in Venezuela und Bolivien. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, das Grundgesetz gegen einen neoliberalen Umbau via EU und gegen den antidemokratischen, militaristischen, sozialstaatsfeindlichen »Reform«Vertrag zu verteidigen. Dem Grundgesetz neues Leben zu geben ist im Übrigen ein Projekt, in dem die klassisch linke Sollbruchstelle von »Reformkräften contra demokratische Revolutionäre« überwindbar wird.

Und so kann man gleichermaßen Internationalist wie Patriot sein. Vorbilder sind uns dabei Künstler und Politiker wie Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Hanns Eisler, Willy Brandt, Johannes R. Becher und viele andere mehr, die selbst in den schwärzesten Stunden der deutschen Geschichte nicht ihre Hoffnung verloren, dass Menschen auch in Deutschland sich vom Faschismus abwenden. Wenn wir uns mit demokratischen Ressourcen in Nationen befassen, dann anti- und internationalistisch. Die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg sangen unter den Angriffen deutscher Flugzeuge von Heimat. Viele Antifaschisten suchen davon den Plural, weil sie mehrere »Heimaten« fühlen. Andere hatten nur eine Heimat zu verlieren, wie der wunderbare jüdische Poet Theodor Kramer: »Andre, die das Land so sehr nicht liebten/warn von Anfang an gewillt zu gehn/ihnen – manche sind schon fort – ist’s besser/ich doch müsste mit dem eignen Messer/meine Wurzeln aus der Erde drehn«. Dagegen inszeniert die für das Finanzkapital wütende Rechte nur eine zynische Vortäuschung von Entwurzelungsangst.

Wie oft ist dieses Deutschland verflucht worden. In seinen Namen sind die Schoah und 20 Millionen ermordete Sowjetmenschen eingeschrieben. Und doch: Die Hoffnung auf ein anderes Deutschland blieb lebendig. So notierte Hanns Eisler die ersten Skizzen für die »Deutsche Symphonie« 1937 im amerikanischen Exil und Bertolt Brecht wagte darin zu formulieren, dass die in den Konzentrationslagern gefangenen und malträtierten Antifaschisten »mit allen unaufhaltsam Weiterkämpfenden die wahren Führer Deutschlands« sind. Welch eine Zuversicht – welch eine Verpflichtung!

Die Autoren sind Abgeordnete der LINKEN im Deutschen Bundestag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal