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Abschwellende Bocksgesänge

  • Marianne Demmer
  • Lesedauer: 3 Min.

Innerhalb von nur einer Woche von der Weltspitze über den Europameister in die Regionalliga? Wie ist das möglich? Die Antwort ist einfach: Wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist, ein Bundesparteitag der CDU stattfindet und der Abwehrkampf der Konservativen gegen ein integriertes Schulsystem immer verbissener geführt wird, kann ein solcher Absturz aus lichter Höhe schon mal passieren.

Doch der Reihe nach. Als die Ergebnisse der internationalen Grundschul-Lesestudie IGLU 2006 bekannt gegeben wurden, jubelte ein bundesweit erscheinendes konservatives Blatt: »Deutsche Schüler nähern sich Weltspitze.« Als auffiel, dass der 11. Rang noch keine Weltspitze ist, sollte es wenigstens der Europameister sein und Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) befand bei der Vorstellung der Studie: »Wir haben die besten Grundschulen Europas.« Dabei übersah sie großzügig, dass Deutschland auch 2006 nicht in den Medaillenrängen, sondern auf Platz fünf lag und dass es für Arbeiterkinder seit 2001 noch schwieriger geworden ist, aufs Gymnasium zu kommen. Im Vergleich zu Akademikerkindern müssen sie durchschnittlich 70 Punkte mehr für eine Gymnasialempfehlung erreichen.

Doch bevor man sich die Ergebnisse richtig ansehen konnte, kam schon die nächste Jubelmeldung. Die Stuttgarter Zeitung – offenbar vorzeitig im Besitz des Pressetextes des deutschen PISA-Koordinators Manfred Prenzel – verkündete Tage vor dem offiziellen Vorstellungstermin: »Die Schulen in Deutschland sind in den vergangenen sechs Jahren bei den PISA-Tests stetig besser geworden.« Es folgte eine bizarre Diskussion. Die einen warnten vor vorschnellen Interpretationen und handelten sich – wie der internationale PISA-Koordinator Andreas Schleicher – Entlassungsforderungen konservativer Kultusminister ein. Wer wie die GEW vor Schönfärberei warnte, galt als Miesmacher und Beinahe-Rufmörder. Die anderen erklärten flugs die Schulstruktur-Debatte für beendet. Angela Merkel war erfreut und beschied auf dem CDU-Parteitag glaubensstark, dass demnächst »die Überlegenheit eines gegliederten, aber durchlässigen Schulsystems von ganz allein sichtbar« wird.

Als dann die ganze Wahrheit ans Licht kam, wurden die Helden immer kleinlauter: Es gibt zwar deutliche Fortschritte bei naturwissenschaftlicher Grundbildung. Doch bei Lesekompetenz und mathematischer Grundbildung verharrt Deutschland weiter im Mittelfeld. Nur bei der Benachteiligung von Migranten der zweiten Generation – denjenigen also, die das deutsche Schulsystem komplett durchlaufen haben – ist Deutschland weiterhin »Spitze«. Mangelnde Chancengleichheit bleibt das Hauptproblem. Der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Jürgen Zöllner (SPD), und Bundesbildungsministerin Annette Schavan fanden schließlich die diplomatische Formulierung: »Wir sind auf einem guten Weg, aber es gibt keinen Anlass, mit den Anstrengungen nachzulassen.«

Ob das Glas derzeit halb voll oder halb leer ist, wird sich bei den nächsten PISA-Terminen zeigen – vorausgesetzt, Deutschland nimmt weiter teil. Die Debatte um ein gutes Schulsystem, das Qualität und Chancengleichheit ermöglicht, ist notwendig wie eh und je. Natürlich könnten wir in der Weltspitze mitmischen. Aber nur in personell und materiell gut ausgestatteten integrierten Schulen, die individuell fördern statt auszusondern, mit spannendem Unterricht und demokratischer Mitbestimmung.

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