Was hält Allah von Schwulen?

Uraufführung des DV8 Physical Theatre im Berliner Festspielhaus

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.

Der britische Regisseur und Choreograf Lloyd Newson – vor zwei Jahren mit seiner DV8 Company und ihrem intelligent-doppelbödigem »Just for Show« um Schein und Sein in Berlin zu erleben – stellte jetzt sein neues Stück als Welturaufführung (in Koproduktion mit dem Haus der Berliner Festspiele) vor. Basierend auf 85 Original-Interviews mit Homosexuellen aus London entwickelte er mit seinen Tänzern genau konturierte Szenen eines modernen Lehrstücks über Toleranz, Intoleranz, Religion und Sexualität. Die großartigen Performer agieren, rappen, tanzen, sprechen von den alltäglichen Diskriminierungen, von Angst, Scham, Sehnsüchten in einer multimedial beredten Bühnenszenerie (Uri Omi), die das Vereinzeltsein in Innenräumen wie das Ausgesetztsein in Straßenfluchten assoziiert.

Ein Männertrio mit brennenden Feuerzeugen ruft »Kill You« durch ein projiziertes Fenster, vor dem ein lesbisches Paar Händchen hält. Die gemalten Fensterkonturen lösen sich in eine skizzierte Landschaft am Meer auf, das Paar träumt von einem unerreichbaren Ort, ein Lichtstrahl ruht auf ihren gefassten Händen. Inmitten einer Video-Weltkugel stehend, doziert ein Mann, dass derzeit in 80 Ländern (20 davon ehemalige britische Kolonien) Homosexualität strafbar ist; die Länder färben sich ein, die Kontinente driften auseinander. Ein Rapper fordert, Schwule zu erschießen. Zum Mitschnitt einer Radiodiskussion nimmt die Gruppe hinter einem dogmatischen Wortführer auf Stühlen Platz. Die aggressive populistische Mehrheitsmeinung agiert en face unisono oder vertreibt Einzelne wie in der skizzierten Speakers-Corner-Szene, basierend auf Passantenumfragen. Geschichten schockierender Alltagsgewalt.

Was ist meine Identität?, fragt einer, der nicht schwarz genug ist für die »black community«. Ein Mann würgt eine christliche Lesbe aus der Karibik. Vor 15 Jahren war Jamaika weit, jetzt hat Jamaika auf Großbritannien übergegriffen und zwei Männer trauen sich nicht mehr, Hand in Hand durch Brixton zu gehen. Ein Hindu im imaginären Coming-Out-Dialog mit seiner Mutter, aberwitzig schnell Springseil springend, voller Angst, voller Kraft. Ein irakischer Arzt spricht vom Werteverfall durch den Krieg, er wird in der Dunkelheit gepeinigt, sein Partner wurde entführt und ermordet, er will das Land verlassen, nach England gehen, um er selbst sein zu können.

Es gibt auch augenzwinkernd komische Annäherungen an die Problematik. Ich denke, ich hab' ein emotionales Problem, bekennt ein Mann, während ein anderer ihm mit Kreide Flügel und ein Herz aufs T-Shirt malt. Visionär und artifiziell großartig sind die Bollywood-Tanzeinlage, in der ein Hindu mit einem Weißhäutigen als Double tanzt, den er in seine Familie einladen möchte, und die Cartoon-Erzählung eines selbstbewussten Familienvaters aus Nigeria, der als christlicher Schwuler vier Leben lebt – er versteht sich als Rambo, der die geteilten Existenzen der gezeichneten Trennwände aus den Angeln hebt!

Die Finalszene treibt Lloyd Newson in die provokative Überspritzung. Ein Mann spricht zwei-Finger-spielend vom doppelten Ärger seiner Existenz als ein gläubiger schwuler Moslem, dessen Ex ein Imam war. Ich bin dabei herauszufinden, was der Koran zur Homosexualität sagt, verkündet er leise und tanzt, tanzt, tanzt mit lächelndem Gesicht. Die kurze Sequenz »To Be Straight With You« zeigt einen Mann mit verkrümmten Gliedern und zuckendem Rücken. In Würde zu leben und »ehrenvoll zu lieben« (Desmond Tutu, Welt-sozialgipfel 2006 in Nairobi, Kenia) kostet so viel Kraft.

Lloyd Newson gelingt mit seinen zwölf Performern und künstlerischen Mitstreitern ein mutiges Zeitstück. Assoziatives Körpertheater, dessen präzis entwickelte Szenenfolge in extremem Tempo montiert ist. In diesem 85-minütigen multimedialen Dokumentartheater wird Tacheles geredet, verdichten sich Sprache, Bewegung, Bühnenbild zu einem höchst eindringlichen Diskurs über schwul-lesbische Menschen mit Migrationshintergrund. »To Be Straight With You« ist hochpolitisches gestisches Tanztheater: wütend, kraftvoll, emotional, schonungslos problemorientiert am Menschsein in unserer globalisierten Gegenwart der religiösen Fundamentalismen. Dass diese stark akklamierte Weltpremiere von Berlin aus den Weg in die Welt findet, setzt Zeichen.

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