Nicht nur Kalingrajan fand nach dem Tsunami Hilfe

Drei Jahre nach der Katastrophe an Indiens Ostküste

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.
Am 26. Dezember 2004 überraschte ein ungeheurer Tsunami Millionen Menschen in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans. über 200 000 kamen ums Leben, ungezählte verloren Obdach, Hab und Gut. Allein im Unionsstaat Tamil Nadu, der an Indiens Ostküste am härtesten betroffenen wurde, zählte man 14 000 Tote. Hunderte Nichtregierungsorganisationen (NGO) sowie Dutzende UNO-Agenturen eilten zu Hilfe. Viele von ihnen beenden nun nach drei Jahren ihren Einsatz.

An jenem unheilvollen 2. Weihnachtstag vor drei Jahren sah der achtjährige Kalingrajan hilflos, wie seine Mutter in der Tsunamiflut ertrank. Das schreckliche Erlebnis erschütterte ihn so tief, dass er nicht mehr sprach, Essen verweigerte, sich absonderte, den Kontakt zur Umwelt scheute. In der Nacht hatte er Albträume, schrie und rief nach seiner Mutter. Jaymurthy und Deepa, zwei Sozialhelferinnen, begannen behutsam mit der psychologischen Betreuung des Jungen. Nach 35 Sitzungen fing er an, sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Fünf Monate dauerte es, bis er sich erholte, wieder mit Kindern spielte und die Angst vor Wellen und Meer überwunden hatte. »Heute schwärmt er davon, Polizist zu werden«, freut sich seine Großmutter im Dorf Singarathoppu im Distrikt Cuddalore, bei der Kalingrajan seit 2004 lebt.

Diese kleine Erfolgsgeschichte ist Teil des Engagements des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) für die Tsunami-Opfer in Indien. 1,2 Millionen Jungen und Mädchen erhielten ähnliche psychosoziale Hilfe. 59 allgemeine Gesundheitseinrichtungen schuf UNICEF, 115 weitere sind im Bau. 20 000 Wasserentnahmestellen wurden saniert und 42 000 Toiletten gebaut. 3,5 Millionen Menschen bekamen Moskitonetze. Der Einsatz aller nationalen und internationalen Helfer stand unter dem Motto »Besser und sicherer bauen als vor dem Tsunami«. Deshalb auch erstreckte sich das Programm über mehrere Phasen – von den unmittelbaren Rettungsaktionen über Wiederaufbau und Rehabilitation bis zum langfristigen Bemühen um nachhaltige, teils neue soziale, ökonomische und umweltverträgliche Strukturen.

Für die Betroffenen standen nach dem Obdach – in Tamil Nadu wurden bis September fast 30 000 der 55 200 benötigten Wohnungen fertig – die Sicherung oder der Neuaufbau der Existenzgrundlage im Mittelpunkt. So wurden einstige Fischer zu Fernsehmechanikern, Klempnern, Chauffeuren umgeschult, Frauen im Schneidern und Anfertigen von Kunsthandwerk unterrichtet. Selbsthilfeprogramme unterrichteten Fischerfrauen beispielsweise in der Käfigaufzucht von Krabben und Muscheln. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) finanzierten die praktische Fortbildung von Maurern. Sie lernten, standfestere Gebäude zu bauen und alte Häuser gegen Tsunami, Erdbeben und Zyklone zu sichern. Diese Qualifizierung übernahmen u.a. die Entwicklungsgesellschaft der Palmyrah-Arbeiter, die lokale Gewerkschaft Indische Nationale ländliche Arbeitsföderation und der Verband für Umweltschutz.

Die Vorbereitung auf Naturkatastrophen bildete einen weiteren Schwerpunkt der Hilfe. Pläne zum Verhalten in »Desastersituationen« wurden ausgearbeitet, Frühwarnsysteme erprobt, Such- und Rettungsaktionen geübt. Bewusst bezog man Frauen wegen ihrer zentralen Rolle in den Familien in das sogenannte Desaster-Risiko-Management ein. An 2500 Oberschulen in Tamil Nadu traten Ernstfallpläne mit Verantwortlichkeiten, Fluchtwegen usw. in Kraft. Straßentheatergruppen popularisierten Verhalten bei Tsunami, Überschwemmungen, Wirbelstürmen, Erdbeben, Elektroschlägen, Feuer oder Epidemien.

Auf dem Gebiet der Bildung machte ein von der UNO ausgearbeitetes »Qualitätsbildungspaket« für die Tsunami-Gebiete im wahrsten Sinne des Wortes Schule für alle staatlichen Bildungseinrichtungen des Unionsstaates. 47 000 Grund- und Mittelschulen arbeiten jetzt nach »Lernprogrammen, die auf Aktivitäten basieren«. Im Zuge einer Aufklärungskampagne von UNICEF und verschiedenen Organisationen entstanden zahlreiche »Meena-Klubs«, in denen Kinder und Jugendliche mit Fragen persönlicher Hygiene, sicherer Verwahrung von Trinkwasser, Umweltschutz und Kinderrechten bekannt gemacht werden.

In 55 Notunterkünften, in denen fast 14 000 Familien untergebracht waren, ließ UNICEF Toiletten bauen und machte die Bewohner mit Hygieneregeln vertraut. Außerdem wurden an fast 1000 Schulen Sanitär- und Hygienekomitees gebildet. Im Tsunami-Gebiet besuchten 1300 Ärzte von Basisgesundheitszentren und 760 Gemeindekrankenschwestern Qualifizierungskurse. 2,4 Millionen Kinder erhielten eine Schutzimpfungen gegen Japanische Enzephalitis.

Das Tamil-Nadu-Ressourcenzentrum widmete seine Aufmerksamkeit dem Schutz der Küstenzone, angefangen bei der Minderung des Katastrophenrisikos bis zur Bebauung, Sicherung der Existenzgrundlage der Bewohner und der Rettung des Ökosystems. Zu den Lehren aus drei Jahren Tsunami-Hilfe gehört, noch mehr Augenmerk sozialer Gerechtigkeit und der Bewahrung der Menschenrechte im Desaster-Management zu widmen. Bis April 2008 werden deshalb Beamte im Distrikt Nagapattinam in mehreren Kursen geschult, in Krisensituationen die Bedürfnisse der Armen nicht zu übersehen.

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