Ein europäisches Versprechen

Erinnerungskultur ganz ohne Propaganda inszeniert der Künstler Jochen Gerz in Bochum

  • Lutz Debus
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Turm der Bochumer Christuskirche musste so hoch sein, dass er die Schornsteine der Stahlwerke überragte. In ihm wurde nach dem Ersten Weltkrieg eine Heldengedenkstätte installiert, die den Krieg verherrlichte.
Der Turm der Bochumer Christuskirche musste so hoch sein, dass er die Schornsteine der Stahlwerke überragte. In ihm wurde nach dem Ersten Weltkrieg eine Heldengedenkstätte installiert, die den Krieg verherrlichte.

Im Sommer noch schien die Errichtung eines Ehrenmales für getötete Bundeswehrsoldaten im Bendlerblock in Berlin fast unvermeidlich. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wollte als Hausherr des Areals, parlamentarische Entscheidungsgremien ignorierend, eine Säulenhalle zum Gedenken an die Toten der Nachkriegszeit bauen lassen. Inzwischen hat das Verteidigungsministerium von den Plänen Abstand genommen. Viele Parlamentarier fordern ein Ehrenmal in der Nähe des Reichstags. Der geänderte Standort solle vermitteln helfen, dass die Bundeswehr eine Armee in einem demokratischen Land sei. An der Sinnhaftigkeit eines solchen modernen Kriegerdenkmals zweifeln aber die wenigsten Abgeordneten. Dass eine Erinnerungskultur auch anders zu inszenieren ist, zeigt ein Projekt mehr als 500 Kilometer weiter westlich.

Mehr ein Parkplatz als ein Platz ist die Freifläche vor der Christuskirche in Bochums Innenstadt. Schmucklose Bauten aus den 60er und 70er Jahren säumen das Areal. Politessen schleichen erwartungsvoll um abgestellte Fahrzeuge. »Ein zerdepperter Platz«, resümiert Jochen Gerz. Der Konzeptkünstler ist von der Stadt Bochum beauftragt worden, im Rahmen der Aktivitäten zur Kulturhauptstadt RUHR 2010 das Grundstück vor der bekannten Kirche neu zu gestalten. »Das Ruhrgebiet ist zwar nicht Venedig«, erklärt der 67-Jährige mit einem spöttischen Lächeln, »aber dieser Platz ist besonders furchtbar.« Man könne Geschichte nicht wegdesignen. »Hier hat der Krieg stattgefunden, und hier hat der Nachkrieg stattgefunden.« Gern hätten manche Verantwortliche der Stadtverwaltung den Platz unter Verwendung des Namens Gerz mit einfachen städtebaulichen Mitteln etwas aufgehübscht. Aber das wollte der Künstler nicht mitmachen. »Statt einer Neumöblierung musste etwas her, was der Zeit Rechnung trägt.«

Wenn die Bochumer Behörden den Künstler Jochen Gerz und seine Werke besser gekannt hätten, wären sie wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, dass er mit der Planung einer freundlichen Parkanlage abzuspeisen gewesen wäre. Jochen Gerz ist ein Künstler, der sich auf der Schnittfläche von darstellender Kunst und Poesie bewegt, aber auch Fotografie einsetzt. Seine Kunst ist oft politisch, nie aber propagandistisch. So gravierte er auf der Unterseite der Pflastersteine des Schlossplatzes in Saarbrücken die Namen von 2146 jüdischen Friedhöfen ein. Dieses unsichtbare Denkmal sollte die Fantasie der Verbeigehenden anregen, statt zu belehren. Der Platz vor dem Schloss in Saarbrücken heißt nun »Platz des unsichtbaren Denkmals«.

Bei seiner Planung in Bochum berücksichtigte Gerz die wechselvolle und widersprüchliche Geschichte der angrenzenden Christuskirche. Diese nennt sich inzwischen »Kirche der Kulturen«. Der Titel trägt dem Umstand Rechnung, dass im Ruhrgebiet Menschen aus knapp 200 Nationen leben. »Kultur wird es hier nur noch im Plural geben – am Ende vielleicht in eben der Zahl, in der Gott die Menschen geschaffen hat und eine Welt, in der man ohne Angst verschieden sein könnte«, heißt es in einer aktuellen Broschüre über die Christuskirche. Als das imposante Gotteshaus 1879 eingeweiht wurde, galt aber noch eine ganz andere Ideologie. In den Grundstein der Christuskirche wurde ein Brief von Kaiser Wilhelm I. gelegt. Der Turm musste so groß sein, dass er die Schornsteine der Stahlwerke überragte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in jenem Turm eine Heldengedenkstätte von dem Künstler Heinrich Rüter erstellt. Jener Künstler war in den frühen 30er Jahren ein begehrter Gestalter solch kriegsverherrlichender Arrangements. Die Namen der 1358 Bochumer Gemeindemitglieder, die im Laufe des Krieges und seiner Folgen bis 1920 ums Leben kamen, sind in einem Mosaik aus winzigen goldenen und schwarzen Steinen festgehalten. An der Kopfseite der beiden mit den Namen gefüllten Seitenwände breitet ein blonder, blauäugiger Jesus seine Arme segnend über ihn staunend anschauende Männer. Der Heldentod wird hier als direkter Weg zu Christus dargestellt. Zu dieser Gestaltung gesellt sich eine Auflistung aller Feindesstaaten des Ersten Weltkrieges. Um die fürchterliche Übermacht darzustellen, gegen die das Deutsche Reich kämpfen musste, wurde sogar Polen aufgeführt, ein Land, das es als Nation zu jener Zeit gar nicht gab.

Aber nicht nur kriegsverherrlichend und waffenstarrend ist die Geschichte der Christuskirche. Hier wirkte ab 1925 Pfarrer Hans Ehrenberg, der als Gründer und führende Persönlichkeit der »Bekennenden Kirche« von den Nazis mit einem Predigt- und Redeverbot belegt wurde, bis er 1938 verhaftet und monatelang im KZ Sachsenhausen gefoltert wurde. Eisenberg gelang die Flucht nach England. Aus England kamen auch die Bomber der Royal Air Force, die ab Mai 1943 Luftangriffe auf Bochum flogen. Das Schiff der Christuskirche brannte bis auf die Außenmauern ab. Der Turm blieb stehen, ragte zu Kriegsende als eines der wenigen erhaltenen Bauwerke in den Himmel der völlig zerstörten Stadt. Erst 1959 konnte die Christuskirche wieder eröffnet werden. An die Stelle des gotischen Schiffes war nun ein schlichter, bilderloser, kristallförmiger Raum getreten. Der Architekt Dieter Oestelen schuf mit seiner experimentellen Formgebung ein Objekt, das der wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry ähnelte. Auch Vergleiche zu dem Arrangement der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin sind berechtigt. Ähnlich der Gedächtniskirche besteht das Bochumer Gotteshaus aus einem alten Turm und einem moderneren Anbau. Das Arrangement soll mahnen und an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erinnern.

Das alte Ehrenmal im Turm wurde aber viele Jahrzehnte kaum beachtet. Der Raum diente als Abstellkammer. Erst vor Kurzem wurde er wiederentdeckt und mit ihm sein kriegsverherrlichender Charakter. Eine Beseitigung dieses Zeitdokumentes kam für die Verantwortlichen nicht in Frage. Eine Kommentierung und Ergänzung wurde als dringend nötig angesehen. Diesen Wunsch aufgreifend, will Jochen Gerz den beiden Listen aus dem Jahr 1931 eine dritte hinzufügen. Auf großen Steinplatten sollen wieder Namen zu lesen sein, allerdings die von Lebenden. Jeder Bürger Europas kann seinen Namen geben, verbunden mit der Bedingung, Europa etwas zu versprechen. Wie bei vielen anderen Kunstobjekten von Gerz bleibt das, was versprochen wird, geheim. Nur der Name des Versprechenden wird öffentlich, nicht das Versprechen. Der Betrachter dieses Kunstwerkes soll ab Januar 2011, wenn »Der Platz des europäischen Versprechens« der Öffentlichkeit übergeben wird, selbst sinnieren können, was die vielen Menschen dem Kontinent versprochen haben.

Gerz ist kein Künstler, der monumentale Propagandawerke schafft. Im Gegenteil, er möchte den öffentlichen Raum nutzen, um zum Diskurs anzuregen, um die Menschen zum Nachdenken zu bewegen. »Ich will nicht nur für die Gut-Denker, für die So-nicht-Denker da sein«, gibt Gerz zu bedenken. Tatsächlich haben manche, die eigentlich an dem Projekt teilnehmen wollten, dann doch nicht ihren Namen gegeben. Zu unbestimmt war jenen die Aussage. »Vielleicht steht mein Name neben dem eines stadtbekannten Ausländerfeindes«, hörte man als Befürchtung. Dazu Gerz: »Ich bin nicht Richter, will auch nicht überzeugen.« Aber doch hat auch Jochen Gerz einen Wunsch, will diesen aber nicht plakativ verkünden. »Natürlich will ich, dass Europa ein friedlicher Ort wird.« Zu oft sei Blut vergossen worden. »Als Kind bin ich in Berlin acht Mal ausgebombt worden.« Europa als eine Selbstverständlichkeit sei für ihn ein »ziemlich erotischer Gedanke«, schwärmt Gerz. »Ich wohne seit 1958 im Ausland, wäre ohne Europa gar nicht denkbar.« Als Gerz hörte, dass sein Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 gefördert wird, blieb er skeptisch: »Europa ist eine Kuh, die alle melken wollen, aber niemand füttern will.« Deshalb möchte er auch, dass nun die Bürger Europas dem Kontinent etwas versprechen, etwas geben – und nicht umgekehrt.

So hoffen nun die Organisatoren des »Platzes des europäischen Versprechens«, dass Tausende sich an dem Kunstprojekt beteiligen. Ein paar Mausklicke, ein paar geschriebene Buchstaben reichen, und schon ist man dabei. Weit mehr als die 1358 Namen vom Kriegerdenkmal im Kirchturm sind bereits gesammelt worden.

www.pev2010.eu

Der Künstler Jochen Gerz arbeitet nun an einem anderen Erinnerungskonzept.
Der Künstler Jochen Gerz arbeitet nun an einem anderen Erinnerungskonzept.
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal