Gefräßiger Kapitalismus

  • Gerhard Armanski
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Sozialwissenschaftler lehrt an der Universität Osnabrück.
Der Sozialwissenschaftler lehrt an der Universität Osnabrück.

Im Palast Karls V. in Sevilla, jenes Kaisers, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, ist ein Empfangssaal über und über mit dem Wahlspruch des Herrn »Plus ultra« – Weiter hinaus – versehen. Trefflich für einen Monarchen, der den Hals nicht voll bekam, obwohl sich in seiner Regierungszeit die Zahl der unterworfenen Menschen und Territorien vervielfachte. Er sprach das am Vorabend des Kapitalismus, der sein Motto erst zu ungeahntem Höhenflug treiben sollte. Trefflich für ein Gesellschaftssystem, das kein Credo außer dem der unaufhörlichen Vermehrung des eingesetzten Werts kennt und dafür nicht nur die Lohnarbeit ausbeutet, sondern nötigenfalls auch über Leichen geht.

Als Kehrseite jener Wertvermehrung muss der Konsum gelten, der das Rad nicht unerheblich am Laufen hält. Zur Advents- und Weihnachtszeit schlug er wieder alle Rekorde – selbst in Japan mit nur einem Prozent christlicher Bevölkerung. Die Christusgeburt ist allenfalls Stichwortgeber für eine nur durch die Grenzen der zahlungsfähigen Nachfrage eingehegte Kauf- und Verbrauchslust. Ein neues Gespenst geht um in Europa und Nordamerika, das Gespenst des Konsumismus, wonach der Sinn des individuellen und sozialen Lebens in der Teilhabe an einem unaufhörlich wachsenden Güterangebot liege: Consumo, ergo sum (Ich verbrauche, also bin ich), würde der Philosoph Descartes vielleicht heute sagen.

Konsum auf Teufel komm raus und Verschwendung markieren die fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften – und nicht nur sie. Wäre es nur so, ließe sich nicht viel dagegen einwenden. Aber dem kapitalistischen Sybaris (für ihren Luxus bekannte antike Stadt) steht im eigenen Land und in der Welt Mangel und Hunger entgegen, der Überfluss konzentriert sich auf eine kleine Schicht. Seine Ideologie indes, dass der Fortschritt vor allem in einem Mehr an allem bestehe, ist längst nach unten, in die »subalternen« Ränge gedrungen. Die Fragen nach der Verteilung des Wohlstands und nach der Qualität des Lebens sind eher etwas für Weltverbesserer.

In der Klimadebatte lässt sich besichtigen, dass niemand seinen Pelz richtig nass machen will und alle auf technische Mittel setzen, die an der Art und Weise der Produktion und Reproduktion nichts wirklich ändern. Die gefräßige kapitalistische Gesellschaft – mit den USA als Vordermann – verleibt sich Natur, Arbeitskraft, Rohstoffe ein, verwandelt sie zu konsumfähigen Waren, hinterlässt nicht selten Wüsten (so in Spanien) und macht ihren Reibach dabei. Ihr gilt das als Fortschritt, koste es, was es wolle. Paul Virilio hat seinerzeit auf den Wahn der puren Zunahme der Geschwindigkeit als Selbstzweck hingewiesen. Sie zerstört Zeit und Sinn für das individuelle und kollektive Selbst.

Die produktivistische und konsumistische Verdichtung von Lebenstakten erzeugt nicht nur tretmühlenartige Hetze, die doch nie anlangt. Paradoxerweise bringt sie als geheimes Leitbild der Gefräßigkeit die Dicken hervor, zu denen in EU / USA bereits 20 Prozent der Bevölkerung gehören. Sie verschlingen definitiv mehr als sie brauchen und sind wider Willen höhnische Galionsfiguren eines Gesellschaftssystems, das den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur zwecks Vermehrung des abstrakten Reichtums ins Unendliche zu treiben beliebt, ehe es denn eine reale Macht davon abbringt.

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